Medizinethnologie

Muttermilch und Vaterrolle – Konstruktionen von Elternschaft im Stilldiskurs: Perspektiven aus Expertenalltag und Familienrealitäten

Laura Gawinski

Mutter mit ihrem gerade gestilltem Säugling | Foto: L. Gawinski

Mutter mit ihrem gerade gestilltem Säugling | Foto: L. Gawinski

„Stillen ist das Beste für Ihr Kind“ – dies ist der wohl prominenteste Grundsatz eines vielschichtigen Stilldiskurses in Deutschland. Internationale Gesundheitsorganisationen, allen voran die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), nationale Stillkommissionen, public health-Kampagnen, biomedizinische Institutionen und alternativmedizinische Einrichtungen, Expert*innen1 diverser Qualifikation und Ratgeberliteratur aus unterschiedlichen Richtungen, sowie Formula-Hersteller, die diesen Satz den beworbenen Produkten voranstellen müssen – sie alle wirken mit verschiedenen Erklärungsmodellen auf werdende Eltern ein und konstruieren neben dieser Tatsache eine moralische Perspektive auf Elternschaft: Welche Eltern würden nicht „das Beste für ihr Kind“ wollen? Vor allem seit dem steigenden Interesse naturwissenschaftlicher Studien zu den Vorteilen des Stillens und diversen damit zusammenhängenden Stillförderungsprogrammen ist ein zunehmender Anstieg der Stillrate in Deutschland zu verzeichnen – man könnte von einem seit Ende der 1970er ausgehenden, neu etablierten gesellschaftlichen Grundkonsens über das Stillen sprechen, dessen aktuellere Entwicklung kritisch auch als „Stillzwang“ bezeichnet wird (vgl. Weißberger 2009: 18; Freudenschuß 2012: 138-143; Tomori 2011: 81).

In diesem Beitrag möchte ich Perspektiven auf die durch den öffentlichen Stilldiskurs geprägten Konstruktionen von Konzepten des Eltern-Seins und deren Umsetzung in parenting-Praktiken, sowie moralisierende Vorstellungen über „gute“ Eltern-Kind-Beziehungen darstellen. Der Text beruht auf einer Feldforschung, die ich von November 2015 bis März 2016 in Berlin durchführte. In dieser Forschung beleuchtete ich sozial und kulturell geprägte Wahrnehmungen des Stillens, die mit weitergefassten Geschlechterbildern und Gesundheitsdiskursen in Verbindung stehen. In diesem Beitrag zeige ich, dass sich Positionen des Stilldiskurses auf geschlechterbasierte elterliche Rollenvorstellungen auswirken. Im Sinne einer biopolitischen Gouvernementalität strukturieren Eltern ihren Familienalltag hinsichtlich diskursiv verbreiterter Experten-Empfehlungen zur Stillpraxis (vgl. Foucault 1978; Rose 2007). Sowohl in Expertenperspektiven als auch in parentalen Ethnotheorien2 nehmen Mütter hierbei die Rolle der Hauptverantwortlichen für den Säugling ein und werden gleichzeitig für das physische und psychische Wohlergehen ihres Säuglings verantwortlich gemacht. Vätern wird aufgrund ihrer biologisch-physischen Beschaffenheit eine marginalisierte Rolle in der Säuglingspflege zugeschrieben, die nur teilweise aufgebrochen und verhandelt werden kann.

Der „moralische Imperativ“ des Stilldiskurses

Der Stilldiskurs ist außerhalb naturwissenschaftlicher Betrachtungen vor allem aus feministischer Sicht diskutiert worden. Der feministische Stilldiskurs gestaltet sich heterogen und hebt verschiedene Vor- und Nachteile des Stillens – meist in Bezug auf mütterliche Identität und Frau-Sein, sowie die biomedizinische Beeinflussung dieser Sphären – hervor (vgl. Van Estrik 2002; Tomori 2011: 83-88). Ein hierbei grundlegender Begriff des Mutterschaftsideals, das in euro-amerikanischen Gesellschaften als richtungsweisend angesehen wird und sich im Stilldiskurs widerspiegelt, ist der des „intensive mothering“. Er projiziert die Erwartungshaltung auf Mütter, das Wohl ihres Kindes über eigene Bedürfnisse zu stellen, und folgt einer Logik des „selbstlosen Aufziehens“ (vgl. Hayes 1996; Lupton 2011: 637; Artis 2009: 30-31).

Der „moralische Imperativ“ zu Stillen (Artis 2009: 30; Marshall et al. 2007: 2147) als Teil der Idealvorstellung des intensive mothering führt die Mutter als zentrale Bezugsperson des Kindes an. Muttermilch wird als „Wundermittel“ (Kneuper 2007: 3) für das Kind konzeptualisiert und von internationaler, staatlicher und biomedizinisch begründeter und institutionalisierter Seite gefördert. Diese Strategien können als Mittel zur Aufrechterhaltung traditioneller Geschlechterverhältnisse und Rollenvorstellungen in einem weitergefassten gesellschaftlichen Rahmen kritisiert werden (vgl. Kneuper 2007).

Das Gefühl des Versagens und die Angst eine „schlechte Mutter“ zu sein, die Frauen im Zusammenhang mit dem Nicht-Stillen empfinden, ist eng mit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung an die Mütter geknüpft. Zu großen Teilen disziplinieren Mütter ihren Körper und regulieren ihr Verhalten entsprechend der Vorstellungen, was eine „gute Mutter“ tun sollte. Hierbei nehmen Mütter oft dogmatische Haltungen ein, wenn es um das Vertreten dieser Vorstellungen geht (vgl. Lupton 2011: 639, 649). Die Be- und Verurteilungen zwischen Müttern in Bezug auf diese Vorstellungen wurden unter dem Begriff mommy wars diskutiert und können auf die Muttermilch/Brust vs. Formula/Flaschen-Diskussion erweitert werden (vgl. Wall 2001; Artis 2009; Moore und Abetz 2016).

Feministische Positionen hinterfragen in ihrer Argumentationsführung insbesondere den „Natürlichkeitsbegriff“, der dem Stilldiskurs zugrunde liegt. Public health-Diskurse beschreiben die natürlichen Qualitäten der Muttermilch oftmals mit biomedizinischen Begriffen (vgl. Kneuper 2007: 3) und betonen, dass Stillen „die natürliche Ernährung für Säuglinge“ sei (vgl. BfR 2013, WHO 2015, WHO/UNICEF-Initiative BFHI 2016). Zudem ist die Praxis des Stillens stark durch Handlungsempfehlungen von Experten beeinflusst, sodass die oftmals auch als „instinktiv“ bezeichnete Ernährung des Säuglings einem strikten Reglement unterworfen ist (vgl. Manderson und Whiteford 2000: 13-14; Faircloth 2015). In historischen Abrissen hingegen wird aufgezeigt, dass es historisch betrachtet keineswegs selbstverständlich ist, dass Mütter stillen: Schon vor der Erfindung der Formula-Milch gab es für die Mutter Alternativen zum Stillen (als eines der ältesten Beispiele wird die Amme genannt) (vgl. Freudenschuß 2011: 140-43; Kneuper 2007: 5-6).

Im Gegensatz zu solchen stillkritischen Positionen heben andere Arbeiten die möglichen Vorteile des Stillens hervor. In Zeiten, in denen Deutschland seinem Namen als bottle-feed-culture (vgl. Van Estrik 2002: 263-265) Ehre machte, waren es in den 1970er/80er Jahren vor allem feministische Positionen, die das Stillen als Privileg für Frauen deuteten, mit dem sie sich gegen eine patriarchalisch-kapitalistische Arbeitswelt durchsetzen konnten (Freudenschuß 2011: 142; vgl. auch Van Estrik 2002: 260-263). Aktuelle Argumentationen wiederum diskutieren Stillen als eine allen Frauen, jenseits von gender, race, class und sonstigen sozial-differenzierenden Kategorien, mögliche und befreiende Praktik. Andere Positionen fordern hingegen, dass eine feministische Stillbefürwortung weitergefasste gesellschaftliche, vor allem durch neoliberale Entwicklungen geprägte Ungleichheiten kritisieren sollte (vgl. Hausmann 2004; Tomori 2011).

Eine Auswahl an Informationsmaterial zum Thema Stillen für werdende Eltern. Die Prospekte werden von verschiedenen Organisationen, Firmen und Institutionen bereitgestellt und liegen auf Babymessen, in Arztpraxen, in Krankenhäusern und Geburtshäusern aus | Foto: L. Gawinski

Eine Auswahl an Informationsmaterial zum Thema Stillen für werdende Eltern. Die Prospekte werden von verschiedenen Organisationen, Firmen und Institutionen bereitgestellt und liegen auf Babymessen, in Arztpraxen, in Krankenhäusern und Geburtshäusern aus | Foto: L. Gawinski

Stillen in Berlin – meine Forschung

In meiner Forschung untersuchte ich, welche Vorstellungen von Elternschaft durch den Stilldiskurs geformt werden und wie Experten aus dem Gesundheitssektor und Eltern selbst in diesem Zusammenhang Elternrollen darstellen. Neben den allgemein rezipierten und öffentlich verbreiteten Vorstellungen, die in Informationsmaterial und Kursangeboten für werdende und junge Eltern vor allem von biomedizinischen (und in geringerem Anteil auch alternativmedizinischen) Empfehlungen geprägt sind, geht es mir in diesem Beitrag vor allem um die Darstellungen von „guter“ Elternschaft und Elternrollen im Zusammenhang mit Stillen. Dies wollte ich anhand der Narrative meiner Interviewpartner, sowie teilnehmender Beobachtung von Stillen als Alltagspraxis erfahren.

Insgesamt führte ich in meiner ethnographischen Studie 12 narrative Interviews mit Familien (12 Mütter, drei Interviews davon zusammen mit den Vätern) und sechs qualitative, Leitfaden-gestützte Interviews mit Experten verschiedener Profession (darunter der Arzt und die Stillkoordinatorin einer Geburtsstation in einem großen, als WHO-Babyfreundlich zertifizierten Krankenhaus3, freie und biomedizinisch zertifizierte Stillberaterinnen, eine Hebamme und Betreiber eines Stillladens in einem Geburtshaus). Teilnehmende Beobachtung führte ich an Orten durch, wo werdende Eltern besonders mit dem Thema Stillen konfrontiert wurden: auf einer deutschen Babymesse, während des Geburtsvorbereitungskurses eines Geburtshauses, in drei Stillcafés, bei einem Stillgruppentreffen, und bei zwei in Krankenhäusern stattfindenden Informationsabenden zum Thema Stillen.

Der örtliche Kontext meiner Forschung war Berlin, das sich im gesamtdeutschen Vergleich als relativ stillfreundliches Umfeld darstellt. Die Stillrate liegt in Deutschland nach der Geburt bei 90 Prozent, 34 Prozent der Kinder werden bis Vollendung des vierten Lebensmonats ausschließlich gestillt. Die Empfehlung der WHO, sechs Monate voll zu stillen, wird von ca. 10% der Mütter in Deutschland praktiziert (vgl. BfR 2016). Eine biomedizinisch durchgeführte Erhebung der Stillrate in Berlin kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und stellt Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern als sehr stillfreundlich dar (vgl. Weißenborn et al. 2009; BfR 2013), wobei es sich als sehr schwer erweist, aktuelle repräsentative Statistiken über die Stillrate zu finden. Zudem herrscht in der Stadt eine hohe Dichte an Babyfreundlichen Krankenhäusern und auch Alternativbewegungen sind zahlreich vertreten: Es herrscht eine hohe Dichte an Geburtshäusern und es sind vergleichsweise viele freie Stillberaterinnen in Berlin tätig.

In Deutschland gibt es außer biomedizinischen Studien bisher wenige Forschungen zum Stillen. Doch Forschungen aus dem US-amerikanischen Raum bestätigen, dass sich der gesundheitspolitische Stilldiskurs vor allem an Mütter aus der weißen Mittelschicht richtet und von diesen rezipiert wird, was sich in den Idealen des intensive mothering, deren Realisierbarkeit auf sozialer, ökonomischer und kultureller Ebene ebenso wie an den signifikant höheren Stillraten in dieser Schicht äußert (vgl. Artis 2009: 32; Wolf 2013: 13; Hausmann 2003: 44). Entsprechend stammten die Familien, mit denen ich forschte, ebenfalls aus einem „klassischen“ weißen Mittelschicht-Kontext: Drei Eltern studierten zum Zeitpunkt meiner Forschung, zwei promovierten, insgesamt elf hatten einen akademischen Abschluss und vier eine Ausbildung (zwei im biomedizinischen Bereich) absolviert und waren in einem Beschäftigungsverhältnis. Alle Familien hatten aktuell ein Kind, das gestillt bzw. bis vor kurzem gestillt wurde (einige hatten zudem ältere Kinder, die mindestens 14 Monate gestillt worden sind).

Da meine Forschung in Berlin stattfand, lässt sie sich als anthropology at home fassen. Gleichzeitig war mir die Thematik auch aus meiner persönlichen Situation als Mutter, die selbst gestillt hat, vertraut, weshalb sich die Forschung als anthropology at home in doppelter Hinsicht beschreiben lässt (vgl. van Dongen und Fainzang 1998). Durch meinen persönlichen Hintergrund als Mutter, die selbst gern gestillt hat, fiel mir die kritische Auseinandersetzung mit meinem Material schwer. Der kritische Blick auf das Stillen im Zusammenhang mit geschlechtergebundenen Rollenbildern lässt sich jedoch aus einer feministischen Tradition heraus begründen, wobei es mir wichtig war, die Perspektiven auf Vaterschaft deutlicher herauszuarbeiten, als dies in den meisten Arbeiten bisher geschehen ist. Dies wiederum erwies sich jedoch als schwierig, da wenige Väter sich zu Interviews bereitfanden.

„Das Beste fürs Kind“: Stillen aus Expertensicht

Die von mir beforschten Stillexperten waren Stillberaterinnen, Hebammen und Ärzte. Sie betonten die Wichtigkeit des Stillens in Bezug auf gesundheitliche Vorteile des Kindes und stellten dies vor allem in Zusammenhang mit mütterlichen Charakteristika und einer guten Mutter-Kind-Bindung. Väter wurden oft nur aufgrund meiner Nachfrage in Betrachtungen miteinbezogen. Besonders auffallend war die Charakterisierung stillender Mütter als gebildet, informiert und gesundheitsbewusst. So sagte eine Stillgruppenleiterin im Interview: „Mütter, die zu mir kommen, sind meist sehr gut informiert […] die halt auch mit so einem Vorwissen da rangehen“. Immer wieder wurden gesundheitliche Vorteile sowohl für das Kind als auch für die Mutter selbst betont.

Im Umkehrschluss ordneten Experten das Nicht-Stillen-Wollen vor allem bildungsfernen Schichten und einem mangelnden Gesundheitsbewusstsein zu. Ein Arzt sagte beispielsweise:

„Es ist ein deutlicher Risikofaktor fürs Stillen, wenn man bildungsfern ist oder aus einer entsprechenden sozialen Schicht kommt […] Bildung und Gesundheitsbewusstsein ist das Thema.“

In diesem Interview wurde in diesem Zusammenhang auch das angeblich häufigere Rauchen von Müttern aus strukturschwachen Gegenden und bildungsfernen Schichten angesprochen. Gleichzeitig wurde als einer der Hauptgründe für das Nicht-Stillen der Informationsmangel, auch hier vor allem in bildungsfernen Schichten, problematisiert.

Ein weiterer wichtiger Aspekt war der „Natürlichkeitsaspekt“ des Stillens, der immer wieder als Argument, sowohl von biomedizinischen Experten, als auch Hebammen und Stillberaterinnen, angeführt wurde. Stillen wurde als „natürliche Fortsetzung der Schwangerschaft“ oder „physiologische und natürliche Art und Weise, sein Kind zu ernähren“ beschrieben. Aufgrund dieser „Natürlichkeit“ bemühen sich Experten auch, Stillen als „Normalzustand“ in der Öffentlichkeit darzustellen – ein Arzt führte das weiter aus und hoffte auf lange Sicht dadurch „eine Idee zu erzeugen, dass ein Kind, das die Flasche kriegt, eher ein Problem hat.“

Vor allem beim Thema Langzeitstillen, das vor allem von Experten ohne biomedizinischen Hintergrund thematisiert wurde, ging es auch um die positiven Emotionen, die Mutter und Kind mit dem Stillen verbinden und die Stillen als „eine anheimelnde, innige Zeit, die die beiden genießen können“ oder „Entspannung, Runterkommen, Zur-Ruhe-Kommen, nicht nur fürs Kind, auch für die Mutter“ darstellten. Mütter, die nicht diese positiven Gefühle mit dem Stillen verbinden könnten, dennoch aber eine Mindestzeit (laut der offiziellen WHO-Empfehlungen sechs Monate) stillen sollten, wurden ebenfalls thematisiert: „Die stillen nur, weil es sein muss.“ In einem Interview wurden Frauen, die sich trotz des Wissens um die Vorteile des Stillens gegen das Stillen ihres Kindes entscheiden, mit chronisch Kranken verglichen, die konträr zu den ihnen erteilten ärztlichen Empfehlungen – und somit implizit verantwortungslos – handeln.

Viele der Stillberaterinnen begriffen das reine Informieren über „medizinische Tatsachen“ als Ziel ihrer Arbeit. Sie brachten jedoch zur Sprache, dass sich einige Mütter von ihnen „unter Druck gesetzt fühlen, zu stillen“, was sie jedoch nicht erreichen wollten:

„Wir klären die Frauen auf, wir wollen sie ja nicht zwingen zu irgendwas […] Das ist natürlich ein sensibles Thema, wenn dann eine Frau nicht stillt und um [verschiedene gesundheitliche Risiken für Mutter und Kind] weiß“.

Die dahinterstehende Problematik, sich jedoch genau deshalb als Nicht-Stillende auch als „schlechte Mutter“ zu fühlen (oder auch als solche von Dritten empfunden zu werden) wurde von einer Stillberaterin reflektiert:

„Dass Stillen das Beste fürs Kind ist, hat sich ja rumgesprochen. Das heißt, wenn jemand bewusst sagt ‚Ich möchte nicht stillen‘, dann sagt der ja irgendwie ‚Ich will nicht das Beste fürs Kind.‘“

Das Bewusstsein um diese Kehrseite ihrer Arbeit thematisierten und reflektierten alle Stillberaterinnen – sie alle grenzten sich von dogmatischen Stillbefürwortern ab und viele wussten um „gute Gründe“ von Nicht-Stillenden. Die angeführten Gründe bezogen sich auf physische oder psychische Problematiken der Mutter. Oft wurden nicht stillende Mütter als sich selbst Vorwürfe machend und bemitleidenswert empfunden. So sagte eine Stillberaterin: „Es ist nicht meine Aufgabe, Frauen, die Flaschenmilch geben, ein schlechtes Gewissen zu machen. […] Die meisten sind traurig darüber.“

Der Vater als „Unterstützer in der zweiten Reihe“?

Neben diesen Vorstellungen, die vor allem die Mütter selbst in gewisser Hinsicht prototypisch zu charakterisieren scheinen, war das Thema der Mutter-Kind-Bindung in allen Experten-Interviews zentral. Stillen wurde hierbei nicht als einseitige Nahrungsgabe dargestellt: In vielen Interviews wurden Kinder als aktiver und mitbestimmender Part angesehen. Deswegen sprachen gerade Stillberaterinnen oft von „das Kind stillt“ anstatt die im Deutschen üblichere Passiv-Form zu benutzen. Die Mutter-Kind-Bindung wird vor allem durch Stillen mit Hautkontakt unterstützt, was wiederum bedeutet, dass die Mutter bestenfalls immer beim Kind ist und es nach Bedarf anlegt. Das schränkt die Freiheit von Frauen besonders in der Zeit, in der voll gestillt wird, deutlich ein. Diese Tatsache wurde nicht als problematisch betrachtet, sondern es wurden eher äußere Umstände, wie der Zustand auf dem Arbeitsmarkt, der für Frauen nachteilig wäre oder die gesellschaftlich negativ empfundene Rezeption von Frauen, die zur Kinderbetreuung zu Hause bleiben, als Problem empfunden. Teilweise äußerten sich Interviewpartner explizit zu feministischen Kritiken am Stilldiskurs – so auch eine der Stillberaterinnen:

„Das scheint so momentan im Feminismus zu sein, dass das Stillen die Frauen einschränkt […]. Dass Kinderkriegen und Kinderpflegen Frauen einschränkt, das liegt […] an der gesellschaftlichen Wahrnehmung und daran, wie Frauen auf dem Arbeitsmarkt behandelt werden […]. Feministisch wäre es zu sagen, die Frau möchte stillen und arbeiten – wie kann sie das schaffen?“

Im Zusammenhang mit der durch das Stillen als sehr eng dargestellten Mutter-Kind-Bindung, fragte ich nach der Rolle der Väter. Hier betonten Experten vor allem die Bedeutung der Väter als praktische Unterstützung der Mutter, beispielsweise „indem sie ihre Frau von all dem anderen Kram entlasten“. Einige Stillberaterinnen berichteten auch von Vätern, die aufgrund des Stillens Angst hätten, selbst keine so innige Bindung zu ihrem Kind aufbauen zu können. Auch wurde vom „Besitzanspruch der Frau auf das Neugeborene, weil nur sie diese Bedürfnisse decken kann“ gesprochen. Die Beziehung von Mutter und Kind wurde als so innig dargestellt, dass Väter entweder auf Kind oder Mutter eifersüchtig werden könnten: „Manche Männer tun sich auch schwer, weil sie sich in so eine Art zweite Reihe stellen müssen“.

Bei der teilnehmenden Beobachtung bei Informationsvorträgen und in Still-Treffen wurde deutlich, dass vor allem (werdende) Mütter durch den Still-Diskurs erreicht werden, da kaum einmal Väter anwesend waren. Inhaltlich wurden Väter in den Vorträgen ebenfalls kaum thematisiert – falls doch, dann wurde an sie als Unterstützung für die stillenden Mütter appelliert, entweder durch eine stillbefürwortende Einstellung oder durch praktische Hilfe im Haushalt. Eine Stillberaterin berichtete, dass bei ihr Väter ausdrücklich erwünscht seien, doch nur einmal, seitdem sie das Still-Café führe, ein Vater anwesend gewesen sei. Eine andere Stillberaterin erzählte, dass viele Väter sich gar nicht vorstellen könnten, wie Still-Treffen aussehen. Die Still-Treffen waren vor allem als Austausch für junge Mütter gedacht, um neue Kontakte zu knüpfen und sich nicht „isoliert“ zu fühlen. Einige erzählten mir während der Treffen, dass sie sich ansonsten vormittags während regulärer Arbeitszeiten sehr einsam fühlten. Gleichzeitig wurden Still-Treffen oft als eine Art „Selbsthilfegruppe“ beschrieben, in der Still-Probleme (oder auch andere mit der Kindspflege zusammenhängende Thematiken) besprochen werden können.

Während einer teilnehmenden Beobachtung in einem Still-Treff entwickelte sich das Gespräch zwischen den Teilnehmerinnen nach einiger Zeit zu einer Auseinandersetzung über die Aufgaben und Freiheiten von Müttern und Vätern gestillter Säuglinge. Zwei Mütter beklagten sich über zu wenig Freiheit und äußerten den Wunsch, wieder einmal auszugehen (dieser Wunsch wurde in anderen Situationen ebenfalls häufig geäußert). In diesem Zusammenhang wurde das Abpumpen von Muttermilch besprochen: Experten-Konsens schien hierbei, bestenfalls immer zu stillen und das Kind möglichst immer bei sich zu haben. Falls einmal abgepumpt werden müsse, so sollte diese Milch nicht per Flasche, sondern mit speziellen Vorrichtungen wie Brusternährungssets oder einem Löffel, Becher oder Spritze verabreicht werden. Das Risiko bei einer Flaschenfütterung sei, dass sich „das Kind zur Flasche hin abstillt“ oder eine „Saugverwirrung“ entsteht. Andererseits sprachen die Mütter auch von der Möglichkeit, durch das Abpumpen auch den Vater einmal das Kind „ernähren“ zu lassen und so seine Bindung zum Kind zu stärken. Eine Mutter erzählte, dass ihr Mann das regelrecht „verlange“, während weitere Mütter davon sprachen, dass ihre Partner dafür andere Alltagssituationen mit dem Kind übernehmen (Baden, das Kind in einem Tragetuch haben, das Kind zu Bett bringen). Auch in anderen Situationen thematisierten Mütter und Experten solche Interaktionspraktiken aufgrund des Nicht-Stillen-Könnens der Väter zur Festigung der Beziehung mit dem Kind.

„Seine Rolle verstehen“: Stillen und Familienalltag

Wie nahmen nun stillende Frauen und Eltern selbst solche Diskurse von Gesundheitsexperten wahr und wie verbanden sie diese mit Vorstellungen von „guter Elternschaft“? Stillen wurde von den Eltern als zentraler Faktor für das Wohlergehen des Kindes und als wichtiger Identifikationspunkt mit der Mutterrolle dargestellt. Durch das Stillen wurde die Mutter als Hauptbezugsperson für das Kind festgelegt.

Viele Mütter referierten stark auf Experten-Wissen im Zusammenhang mit ihrer Stillpraxis: Nele und Ines4, beide Erstmütter mit noch vollgestillten Säuglingen von unter einem halben Jahr, betonten ihre Ausbildung im Gesundheitswesen als einen ausschlaggeben Faktor, warum für sie von Anfang an feststand, zu stillen. Ines sagte, in ihrer Ausbildung an einem Babyfreundlichen Krankenhaus sei ihr das Stillen „regelrecht eingeimpft“ worden. Viele Mütter ohne biomedizinischen Hintergrund nannten die Aneignung von Wissen um die Vorteile des Stillens als wichtige Hilfe: Barbara, Mutter von mehreren Kindern, die mindestens eineinhalb Jahre gestillt wurden, erzählte über ausgiebige Recherchen im Internet und betonte die WHO-Empfehlungen. Auch Vanessa, die ihr Kind eineinhalb Jahre stillte, nannte das Internet als Hauptinformationsquelle. Zusätzlich nannten einige auch Ratgeberliteratur: Mira und ihr Mann Leo, zweifache Eltern, erzählten „man kommt um das Thema kaum herum“, da in jedem Säuglingspflegeratgeber zumindest eine Rubrik über das Stillen informiere. Andere Mütter hatten sich intensiver mit alternativen Ansätzen der Kindserziehung auseinandergesetzt, in denen Stillen und Körperkontakt einen hohen Stellenwert einnehmen.

Neben dem eigenständigen Informieren wurden vor allem Hebammen und teilweise auch Stillberaterinnen als wichtige Bezugs- und Vertrauensperson, gerade bei Stillproblemen genannt. Skeptischer diskutierten die Eltern die Stillbetreuung in Krankenhäusern: Sina und ihr Mann Dennis empfanden die Stillförderung in einem Babyfreundlichen Krankenhaus als zu dogmatisch, beschrieben sie als „religionsartig“. So würden nicht stillende Mütter zu stark unter Druck gesetzt werden, „ihren Job als Mutter nicht richtig zu machen“. Sina musste am Anfang Formula-Milch zufüttern und erklärte, man habe ihr im Krankenhaus Angst gemacht, dies könne die Stillbeziehung zerstören. Auch Paula kritisierte eine von ihr als zu dogmatisch empfundene Sichtweise verschiedener Experten auf das Stillen, die sie während der Schwangerschaft kennengelernt hatte. Barbara erzählte jedoch von Situationen, in denen sie sich in nicht Babyfreundlichen Krankenhäusern als vollstillende Mutter nicht genügend unterstützt gefühlt habe.

Einige Mütter hatten den Druck zu Stillen auch selbst internalisiert: Ines berichtete von anfänglich starken Stillproblemen und dass sie sich „durchgebissen“ habe, weil es ihr so wichtig sei, zu stillen. Auch Barbara berichtete von starken körperlichen Problemen beim Stillen, doch auch sie habe nicht aufgeben wollen, da sie sonst „noch viel schlimmer mit einem schlechten Gewissen“ zu kämpfen habe. Paula erzählte ebenfalls von negativen Aspekten des Stillens, Schmerzen, körperlicher Anstrengung und Zeitintensität und nahm bei diesen Problemen die Hilfe ihrer Hebamme in Anspruch. Gleichzeitig wurden nicht stillende Mütter von einigen Müttern negativ charakterisiert: Vor allem Agnes, die „Stolz“ empfand, ihrem Kind zweieinhalb Jahre Muttermilch gegeben zu haben, drückte sich drastisch aus: Sie empfinde Nicht-Stillende als „egoistisch“ und dass sie „nicht das Beste für ihr Kind wollen“. Für sie gehört Stillen so stark zum Kinder-Bekommen dazu, dass sie meine, wenn man nicht stillen wolle, solle man keine Kinder haben. Agnes und Mira empfanden oft genannte Gründe Nicht-Stillender als „blöde Ausreden“ – da viele sich darauf berufen würden, nicht stillen zu können, was aber nur auf einen geringen Prozentsatz der Mütter tatsächlich zutreffe.

Andere Mütter zeigten mehr Verständnis für nicht stillende Mütter und sagten, sie können nachvollziehen, wenn eine Frau auch aufgrund des dann mangelnden Freiraums nicht stillen möchte. Den mangelnden Freiraum für sich selbst thematisierten Mira, Ines, Vanessa und Paula: Sie wollten gerne auch ohne Kinder wieder einmal etwas unternehmen. Zudem berichteten sie von aufwändigen Unterfangen (und logistischen Planungen mit Hilfe des Kindsvaters), um ohne ihre vollgestillten Kinder unterwegs zu sein. Viele Mütter berichteten von einem insgesamt stark kindbestimmten Tagesablauf und mehr als die Hälfte der Mütter hatte sich entschlossen, die Elternzeit, aufgrund des Stillens und dadurch, dass sie deshalb die Hauptbezugsperson für das Kind seien, allein zu nehmen. Emma und Juliane berichteten jedoch, die Elternzeit aufgeteilt zu haben und nach den ersten sechs bzw. acht Monaten wieder arbeiten zu wollen. Bei beiden spielte das Thema „gleichberechtigte“ oder „gleichbeteiligte“ Beziehung von Mutter und Vater zum Kind eine große Rolle: Beide hatten vor der Geburt überlegt, dass auch ihr Mann abgepumpte Muttermilch füttern solle, um „die Erfahrung mit dem Füttern“ ebenfalls machen zu können. Beide Mütter wollten das jedoch nach der Geburt nicht mehr umsetzen: Juliane beschrieb die im Vorhinein getroffenen Entschlüsse als „vernünftige Überlegungen“, mit denen sie sich emotional momentan nicht abfinden könne. Auch Emma sagte, dass vorherige Überlegungen, wenn das Kind auf der Welt sei, emotional nicht mehr machbar seien.

Auch Ines und Paula berichteten davon, dass sie es nicht ertragen können, wenn andere ihre Kinder mit der Flasche füttern: Ines sei in Tränen ausgebrochen, weil das „ihre Aufgabe“ als Mutter sei, ihr Kind zu füttern und mit ihm dabei zu kuscheln. Barbara hingegen erklärte, ihr Mann habe eine so intensive Beziehung zu ihrem Kind, da er, als Stillen aus gesundheitlichen Gründen nicht ging, Muttermilch mit der sog. finger-feeding-Methode fütterte. Ramona wiederum fand, Stillen sei „ein Gefühl, das für Väter nicht nachvollziehbar ist“. Insgesamt stellten sich viele Mütter als Hauptbezugsperson für ihr Kind dar und die Väter, mit denen ich sprach, bestätigten dies. So erklärte Dennis, er musste „seine Rolle verstehen lernen“ und dass Väter erst bei älteren Kindern zu zentralen Bezugspersonen würden. Er und Jan empfanden es als entlastend für sich selbst, dass die Mutter die Bedürfnisse des Kindes abdecke. Sina selbst bezeichnete das Stillen als „Waffe der Frau“ und auch Vanessa nannte es „Beruhigungsmittel Nummer Eins“, das bei allem hilft. Barbara empfand die Kinder auch in ihrer Körperlichkeit als „ganz die Mutter“, da sie sich nach der Geburt ganz aus ihrer Muttermilch heraus entwickelt haben. Paula empfand den Abstillprozess als „eine Art Entthronung […] dass man nicht mehr so die eine Person ist, die dem Kind alles geben kann“.

Eltern-Sein: Rollenvorstellungen und Stillpraxis

Aus den dargestellten Ergebnissen meiner Forschung lässt sich feststellen, dass Ethnotheorien zu elterlichen Rollenvorstellungen, zur Stillpraxis und die tatsächliche Gestaltung des Stillalltags zentral von zwei Komponenten geprägt sind. Zum einen sind dies biomedizinische Empfehlungen und naturwissenschaftliche Studien zu den Vorteilen des Stillens. Diese werden im öffentlichen Diskurs kommuniziert und von Experten verbreitet. Das steht im Zusammenhang mit einem Verantwortungs- und Gesundheitsbewusstsein, welches als mütterliche Pflicht verstanden wird. Die Mutter wird als Hauptbezugsperson des gestillten Säuglings verstanden. Dementsprechend wird ihre Rolle im Alltag, zumindest während der Zeit, in der das Kind vollgestillt wird, hauptsächlich an dessen Seite verortet. Dies ließ sich an den Elternzeitregelungen, den von Müttern als eingeschränkt empfundenen Freiräumen und Strategien zur Gestaltung des Alltags mit Kind (z.B. in Stillgruppen) nachvollziehen. In Abgrenzung dazu werden nicht stillende Mütter mit negativen Attributen besetzt, die im Gegensatz zu einer „guten“ Elternschaft stehen.

Die zweite Komponente, auf die sich Ethnotheorien maßgeblich stützen, sind psychologisch begründete Ansätze, die vor allem die körperliche Nähe durch das Stillen, sowie die dadurch ausgeprägte gute Bindung zum Kind betonen. Beide Komponenten ergänzen sich und können kaum als voneinander getrennt betrachtet werden. Auch biomedizinische Erklärungen stellen neben den positiven Inhaltsstoffen der Muttermilch die körperliche Nähe zur Mutter durch das Anlegen an die Brust als bedeutend dar. Hierbei machen es physisch-biologische Differenzen der Geschlechter dem Vater unmöglich, bei einem vollgestillten Säugling die gleiche Rolle und einen gleich hohen Stellenwert wie die Mutter einzunehmen. Sie ist aufgrund ihrer Brust als einzige in der Lage, dem Säugling sowohl die „beste“ Nahrung zu geben als auch die gleichermaßen wichtige körperliche Nähe. Somit steht beim Stilldiskurs die Mutter-Kind-Bindung im Fokus, während Vätern eine marginalisierte Stellung zugewiesen wird. Meistens wird der Vater als „Unterstützer“ der stillenden Mutter beschrieben, der ihr Dinge jenseits der Säuglingspflege „abnehmen“ soll und weiterhin arbeiten geht.

Nichtsdestotrotz war das Thema der Vater-Kind-Bindung in meiner Forschung präsent: Einige Mütter thematisierten die vor der Geburt beschlossene „gleichbeteiligte“ Kindspflege, bei der der Vater den Säugling auch füttern sollte. Doch die von Experten empfohlenen Methoden der alternativen Muttermilch-Gabe sind aufwändig und oft an die physische Präsenz der Mutter gebunden (z.B. durch Brusternährungssets), oder Experten raten ganz davon ab: So wird das Füttern von Muttermilch mit einer Flasche mit Risiken wie einer Saugverwirrung oder eines abrupten unbeabsichtigten Beendens der Stillbeziehung belegt. Aufgrund dessen erscheint für viele Mütter Arbeiten und Stillen als „Doppelbelastung“: Auch wenn Arbeiten und Stillen von vielen Experten als kompatibel beschrieben wurde, schilderten die Familien dies als aufwändiges und gut zu planendes Unterfangen, da die Väter nicht einfach abgepumpte Milch aus Flaschen füttern, sondern idealerweise die Kinder zum Stillen an den Arbeitsplatz der Mutter gebracht werden sollten. Weitere Strategien der Väter, das Nicht-Stillen-Können auszugleichen, scheinen auf den Versuch, zumindest begrenzt gängige Rollenbilder innerhalb der Kernfamilie zu verhandeln, hinzuweisen. Dennoch werden Mutter und Kind als enge Einheit während der Stillzeit dargestellt, die dem Vater innerhalb der Familie eine untergeordnete Rolle einräumt.

Die regulierende biopolitische Dimension des Still-Diskurses wurde in der Mikroperspektive deutlich: Eltern reproduzieren die Sicht auf Stillen als (gesundheitlich) „Bestes für das Kind“ – ein „Mantra“ (Murphy 1999), das in den letzten Jahren durch internationale und nationale, staatliche und nicht-staatliche Organisationen, Vereine und Kampagnen gestützt wurde und mit dem Eltern an vielen Punkten ihres Eltern-Seins auf verschiedenen Ebenen konfrontiert sind. In meiner Forschung fiel auf, dass Eltern entsprechende Handlungsempfehlungen umsetzten und auf diese als autoritatives Wissen verwiesen. Durch die horizontale, vor allem auf biomedizinische Studien gestützte Wissensvermittlung und den darauf aufbauenden Diskurs werden Eltern nicht nur in ihrer Entscheidung der Säuglingsernährung, sondern auch in der familiären Rollenverteilung und dem Verständnis von mütterlichen oder väterlichen Aufgaben beeinflusst. Traditionelle Vorstellungen werden durch biologisch-physische Tatsachen und scheinbar „neutral-objektive“ Faktoren gefestigt.

Durch die institutionalisierte Stillförderung scheint es einen Druckmoment zu geben, den viele Experten in ihren Narrativen reflektieren. Auch wenn sie sich von dogmatischen Haltungen abgrenzten, räumten sie problematische Faktoren jenseits ihrer individuellen Strategien ein. Gleichzeitig reproduzierten sie teilweise implizit diese dogmatischen Argumentationen in ihren eigenen Narrativen. Ebenso versuchten vor allem die Mütter bei Stillproblemen vieles, um stillen zu können, hielten diszipliniert Handlungsempfehlungen der Experten ein und erklärten dies damit, sonst ein „schlechtes Gewissen“ zu haben. Auch wurden Diskussionen von stillenden und nicht-stillenden Müttern als angespannt und belehrend empfunden.

Ausblick auf kulturelle Wahrnehmungen des Eltern-Seins

Anhand des öffentlichen Still-Diskurses in Deutschland eröffnen sich verschiedene Perspektiven auf Elternschaft. Eltern-Sein (bzw. „gute“ Eltern sein) ist stark emotional, ideologisch und moralisch aufgeladen und lässt sich auf verschiedenen Ebenen untersuchen. In meiner Forschung ließen sich aus der Mikro-Perspektive die sozio-kulturell geprägte Wahrnehmung des Eltern-Seins, die durch den Diskurs geprägten individuellen parentalen Ethnotheorien zum Stillen (und darüber hinausgehenden Eltern-Säuglingsinteraktionen), sowie deren Umsetzung in der Alltagspraxis nachvollziehen. Die in diesem Bericht diskutierten Perspektiven und Praktiken zeigten, dass die Wahrnehmungen von Mutter- und Vaterrollen sowohl in der Identifikation mit dem Eltern-Sein als auch in der Praxis eher einer traditionellen Rollenverteilung in der Kernfamilie entsprechen. Dennoch ist ebenfalls anzumerken, dass die beforschten Familien in einem engeren Rahmen ihre Rollen verhandeln und Väter teilweise bewusst gegen das gängige marginalisierte Rollenbild angehen und neue Perspektiven auf Vater-Kind-Bindungen schaffen wollen, die von Experten bisher vernachlässigt werden. Die Mütter in meiner Forschung stammen zudem aus einem privilegierten Kontext, in dem der Stilldiskurs stark auf die Identifikation mit der Mutterrolle einwirkt und naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle Eltern-Säuglings-Interaktionen und spezifische „mütterliche“ Emotionen kulturell zu prägen scheinen. Ihre privilegierte Position ermöglicht es den Müttern zudem, gängige Experten-Handlungsempfehlungen erfüllen zu können, ohne existentiellen Problematiken ausgesetzt zu seien, weshalb sie das Stillen als solches eher mit geringen Einschränkungen ihrer Freiräume verbanden.

Autoreninformation

Laura Gawinski studierte Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie (B.A.) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und studiert nun Sozial- und Kulturanthropologie (M.A.) an der Freien Universität Berlin. Dieser Beitrag entstand als Teil der Forschung für ihre Master-Arbeit, in der sie sich mit Konstruktionen von Elternschaft im Zusammenhang mit dem Stilldiskurs auseinandersetzt. In ihrer Arbeit möchte sie diverse Aspekte, die eine weitergefasste Perspektive auf das Thema Stillen eröffnen, thematisieren, u.a. in Bezug auf Wissen, (öffentlichen) Raum, Konsumkultur, sowie weibliche Körperlichkeit.

Literaturverweise

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1. Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Form benutzt. Hierbei sollen jedoch alle Geschlechteridentitäten mitgedacht werden.

2. Parentale Ethnotheorien sind Vorstellungssysteme bezüglich Kindern, Familien, Erziehungsstil und dem (Selbst-)verständnis als Eltern. Sie beinhalten vor allem kulturelle Vorstellungen über den Umgang mit dem und daraus folgende Entwicklungskonsequenzen für das Kind. Sie umfassen sowohl elterliche Vorstellungen, die bewusste Meinungen reflektieren, als auch implizit übernommene Komponenten, die als selbstverständlich angenommen werden (vgl. Harkness et al. 2001; Lamm et al. 2008). In dieser Arbeit nehme ich auf die Teile parentaler Ethnotheorien Bezug, die in den Narrativen meiner Interviewpartner (siehe unten im Text) als auch in den teilnehmenden Beobachtungen erfahrbar wurden.

3. Die babyfriendly hospital initiative (BFHI) ist ein weltweites Programm von WHO und UNICEF, das Krankenhäuser zertifiziert, die bestimmte Kriterien zur Stärkung der Mutter-Kind-Bindung, vor allem durch eine besondere Stillförderung, unterstützen (vgl. WHO 2015, WHO/UNICEF 2016).

4. Für alle Personen werden zur Wahrung ihrer Anonymität Pseudonyme verwendet.

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4 thoughts on “Muttermilch und Vaterrolle – Konstruktionen von Elternschaft im Stilldiskurs: Perspektiven aus Expertenalltag und Familienrealitäten

  1. Stefan Reinsch

    Liebe Laura, den Beitrag habe ich mit Interesse gelesen. Mir fällt eine Engführung von Stillen und Muttermilchfütterung auf, die häufiger ausdifferenziert werden könnte, sowohl in Vor- und Nachteile der jeweiligen Praxis. Als Konsequenz der fehlenden Differenzierung bleiben viele Fragen im Raum stehen, von der Frage des gesundheitlichen Effektes – für das Kind und die Mutter – bis hin zur Feststellung, das Säuglinge lieber Flasche mit Muttermilch als direkt an Brust trinken. Diese Ausführungen würden die unterschiedlichen Rationalisierungsansätzen der Diskurse sicher verständlicher machen.

  2. Laura Gawinski

    Lieber Stefan Reinsch,
    herzlichen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Anregung! Eine Ausdifferenzierung verschiedener Methoden der Muttermilchgabe wäre sicherlich hilfreich, um die biomedizinische Argumentationsweise im Still-Diskurs zu verstehen. Zudem würde es die Argumentationsweise in meinem Beitrag hinsichtlich der den Müttern zugeschriebenen Verantwortung für ein gesundheitsbewußtes Handeln unterstreichen. Maßgeblich wurden mir von Expert*innen-Seite für das Stillen folgende gesundheitliche Vorteile für Mutter und Kind kommuniziert: Für das Kind sind neben den wichtigen Inhaltsstoffen (die individuell abgestimmte Zusammensetzung der Milch auf den Säugling und seine jeweilige Entwicklungsphase, die Immunglobuline und Wachstumshormone, sowie die leichte Verdaulichkeit von Muttermilch), die zu einer positiven Gehirnentwicklung, selteneren Infekten des Säuglings und einem gesenkten Risiko, im Erwachsenenalter an Adipositas, Diabetes Typ II und Allergien zu erkranken, vor allem die körperliche Nähe zur Mutter als wichtige emotionale Bedürfnisbefriedigung des Kindes genannt worden. In diesem Zusammenhang wurde mir das Stillen als eine gute Möglichkeit zur Stärkung der Mutter-Kind-Bindung dargestellt. Zudem soll das Saugen an der Brust sich positiv auf die Sprachentwicklung des Kindes auswirken und das Risiko an einer Mittelohrentzündung zu erkranken, senken. Ebenso wurden viele positive Effekte auf die Gesundheit der stillenden Mutter angesprochen: Stillen soll durch die Freisetzung bestimmter Hormone positive Effekte auf die psychische Verfassung der Mutter haben, die Rückbildung nach der Schwangerschaft vereinfachen und ihr Risiko, an Eierstock- oder Brustkrebs und Diabetes Typ II zu erkranken, senken.
    Neben dem Stillen und der Muttermilchfütterung durch die Flasche waren noch Brusternährungssets und die sog. finger-feeding-Methode in meiner Forschung präsent: Beide stellten sich als „Hilfsmittel“ dar, wenn das Stillen nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Beide Methoden seien insofern der Flasche vorzuziehen, als dass sie das Kind nicht „von der Brust entwöhnen“. Die Flaschenfütterung wurde mir negativer dargestellt, da der Säugling sich an die andere Saugbewegung gewöhne und es dem Säugling leichter falle, mit weniger Saugkraft eine größere Menge Milch zu sich zu nehmen (jedoch verschlucken sie hierbei häufiger Luft, was zu Verdauungsschwierigkeiten führen könnte) und deswegen einige Säuglinge nach Flaschengabe die Brust „verweigerten“.
    Dies sind Argumentationspunkte innerhalb einer biomedizinischen Sichtweise auf das Stillen, die den Müttern die Rolle der Hauptverantwortlichen für den Säugling (und seine gesundheitliche Entwicklung) zuordnen und somit meine Argumentationsführung verdeutlicht. Gleichzeitig hätte eine detaillierte Darstellung dieser Punkte jedoch den Rahmen des Blog-Eintrags gesprengt, weshalb ich um Verständnis bitte, die verschiedenen angeführten Punkte der Argumentationen nur verkürzt darstellen zu können.

  3. Katja König, Hebamme

    Grüße Sie
    Ihr Beitrag erfreut mich, da ich beruflich sehr häufig mit der sozialen Drucksituation, denen die Frauen, die Babys und die Männer ausgesetzt sind, konfrontiert bin. Und der sachliche Umgang mit diesem Thema erforderlich ist.

    Übrigens
    Die Begründung, dass die Mutter-Kind Bindung durch das Stillen gefördert wird beruht auf der Hypothese, das diese durch die Ausschüttung des Hormons Oxytocin entsteht. Oxytocin fördert die Zuneigung.
    Inzwischen gibt es aber Studien, dass dieses Hormon nicht nur beim Stillen ausgeschüttet wird sondern auch beim Füttern mit der Flasche, und bei jedem innigen Kontakt mit dem Kind. Die Ausschüttung von Oxytocin scheint also Folge der Bindung zu sein und nicht die Ursache.
    Männer produzieren auch Oxytocin, ich kenne keine Untersuchung, wie dieser Sachverhalt in Bezug auf den Umgang mit dem Kind ist.
    Ich kenne leider auch keine Studien welche Hormone eine Mutter, die beim Stillen unter Stress steht, ausschüttet. Die Wahl der Studien orientiert sich wohl auch am „Stillen ist das Beste“.
    Mit freundlichen Grüßen, Katja König

    1. Laura Gawinski

      Liebe Frau König,
      herzlichen Dank für Ihren Kommentar.
      Ihre Anmerkung ist sehr interessant und zeigt, wie selektiv und intendiert
      wissenschaftliche „Tatsachen“ produziert und an werdende Eltern
      kommuniziert werden. In meiner Forschung wurde die Oxytocinausschüttung
      als stark mit dem Stillen verbunden dargestellt, auch wenn ebenfalls
      betont wurde, dass nicht nur das Stillen, sondern verschiedene proximale
      Praktiken bindungsfördernd sind. Bei der Kommunikation dieser Praktiken
      stand ebenfalls v.a. die Mutter-Kind-Bindung im Vordergrund. Insgesamt
      scheint mir die Vater-Kind-Bindung in der Säuglingszeit ein Aspekt zu
      sein, der zu wenig thematisiert wird – wie auch Ihre Anmerkung in Bezug
      auf die Oxytocinproduktion von Männern aufzeigt.
      Ich danke Ihnen herzlich für diesen Input!

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