Frau Prof. Dr. Helene Basu ist Professorin am Institut für Ethnologie in Münster und bietet seit 2007 regelmäßig Lehrveranstaltungen zur „Transkulturellen Psychiatrie“. In ihren Forschungen beschäftigt sie sich mit Behandlungen von psychischen Störungen in Indien. Dieses Interview wurde von Veronika Wolf geführt und im Jahr 2010 von der Online-Zeitschrift ethmundo.de publiziert. Da ethmundo.de seine Online-Präsenz mittlerweile eingestellt hat, macht der Blog Medizinethnologie das Interview in leicht bearbeiteter Form neu zugänglich.
Frau Basu, was ist die Transkulturelle Psychiatrie für Sie?
Für mich bedeutet die Transkulturelle Psychiatrie, mich damit auseinanderzusetzen, welche Vorstellungen Menschen in verschiedenen Kulturen, einschließlich unserer eigenen, von seelischen oder psychischen Leiden und Krankheit haben. Es geht dabei auch um unterschiedliche Heilmethoden, die oft mit unterschiedlichen Vorstellungen von Krankheit zusammen hängen. Und dann kommt es natürlich auch sehr auf den Kontext an, das heißt, es ist wichtig zu berücksichtigen, wo Menschen leben, die psychische Störungen erleben.
Die Psychiatrie gibt es ja nicht nur hier im Westen. In vielen Ländern ist die Psychiatrie von europäischen Kolonialmächten eingeführt worden. Das bedeutet, dass sie dort auch in einer anderen Weise verortet ist als in unserer eigenen Gesellschaft. Deswegen heißt Transkulturelle Psychiatrie für mich, eine vergleichende Perspektive auf psychische Störungen einzunehmen.
Wie kamen Sie zu dem Thema?
Ich ganz persönlich? Meine erste Feldforschung habe ich in Indien für meine Dissertation durchgeführt. Ich habe mit Menschen einer Kaste oder Community gelebt, die aus Afrika zumeist über erzwungene Migration durch den Sklavenhandel nach Indien kamen. Diese ehemaligen afrikanischen Sklaven bildeten in Indien eine Gemeinschaft. Ich war zunächst davon irritiert, dass sich diese Gemeinschaft, die übrigens „Sidi“ heißt, ein Selbstimage als „verrückte Fakire“ gab. Was sollte das bedeuten? Es stellte sich später heraus, dass damit eine positive Form des „Nicht-Normalseins“ gemeint war; eine, die mit ekstatischen religiösen Praktiken verbunden war und die, wie in Ostafrika, auch hier zugleich mit der Heilung von Störungen verbunden ist, die auf die Besessenheit durch negative Geister zurückgeführt werden. Viele Sidi sind Heiler, die Besessenheits-Verrücktheit heilen. Dieser Gegensatz zwischen dem Selbstbild als „mad community“ und der Tatsache, dass sie gleichzeitig Störungen und Krankheiten heilen, hat mich damals sehr fasziniert.
Später habe ich diesen Aspekt wieder aufgenommen und habe angefangen, mich stärker mit den Hilfesuchenden zu beschäftigen, die sich an diese Heiler wenden, weil sie Heilung oder eine Behandlung suchen. Dabei habe ich festgestellt, dass viele von ihnen schon Erfahrungen in der Psychiatrie in Indien gemacht hatten, aber fanden, dass ihnen die dort angebotene Behandlung nicht hilft. So entstand ein neues Forschungsprojekt, in dem ich den Hilfesuchenden folgen wollte, ihrer Route, die sie zu einem Psychiater, zu einem rituellen Heilzentrum oder zu beidem führt. So bin ich zu diesem Forschungsthema gekommen.
Können Sie Ihre aktuelle Forschung in ein paar Sätzen skizzieren?
Meine aktuelle Forschung bezieht sich auf den Vergleich von kulturellen Institutionen und Experten, die auf die Behandlung von psychischen Leiden spezialisiert sind. Dabei stellt sich die Frage, was ein Heiligenschrein als Erklärungsmodell und Behandlungstechnik anbietet und wie sich diese von psychiatrischen Therapien unterscheiden oder mit ihnen vergleichbar sind. Jede Institution bringt spezielle Kategorien hervor, die Erklärungen für die Ursachen von Störungen und als richtig erachtete Behandlungsformen liefern und zugleich Erwartungen erzeugen, wie ein Krankheitsbild aussieht und sich jemand verhält, der an dieser oder jener Störung leidet. Rituelle und psychiatrische Therapien werden jeweils von Experten durchgeführt, die ihre speziellen Methoden haben, mit dem, was als Krankheit oder verrücktes Verhalten definiert wird, umzugehen. Ein interessanter Aspekt ist zum Beispiel, dass es eigentlich in allen Diskursen von Krankheiten immer um Kontrolle und die Kontrollierbarkeit von störenden Symptomen geht. Es stellt sich die Frage, wer oder was muss kontrolliert werden. Die Krankheit? Der Patient? Die Ursache für die Krankheit? Da kommen dann die Unterschiede in kulturellen Weisen des Verstehens von und der Methoden der Kontrolle zutage, die in verschiedenen Institutionen angewendet werden.
Ein anderer Aspekt, mit dem ich mich beschäftige, ist Thema des Films „Drugs and Prayers“ (2009). Der Film ist während meiner aktuellen Feldforschung entstanden. Es geht um Psychiater, die an einem Heiligenschrein praktizieren. Ich wollte darstellen, was passiert, wenn verschiedene Systeme und die Vertreter unterschiedlicher Institutionen zusammenkommen: Wie nehmen die sich gegenseitig wahr, wie repräsentieren die sich?
Was ist die spezifische Perspektive der Ethnologie in der Transkulturellen Psychiatrie?
Die Ethnologie entwickelt viele Perspektiven. Zum einen nimmt sie oft einen kritischen Standpunkt ein, wie zum Beispiel die Medizinethnologie oder medical antrophology, die den alleinigen Gültigkeitsanspruch der Biomedizin und der Psychiatrie hinterfragt. Die Biomedizin erhebt den Anspruch, wissenschaftlich zu sein und rationale, wahre Erklärungsmodelle anzubieten, während alles, was davon abweicht, als Glaube betrachtet wird – im besten Falle Placebo und im schlimmsten Falle einfach abergläubisch und rückständig. Da ist die Ethnologie sehr kritisch, wobei man nicht leugnen kann: Wenn man sich zum Beispiel ein Bein bricht, geht man eher ins Krankenhaus als zu einem Heiler. So sehen es durchaus auch viele Menschen in Indien. Medizinischer Pluralismus ermöglicht vielfältige Handlungsweisen. Eine Schwarz-Weiß-Sicht wäre da unangebracht.
Andere Ansätze versuchen, biomedizinische und rituelle Heilmethoden aus einer gemeinsamen Perspektive zu verstehen, das heißt zu beschreiben, aus welchen Praktiken sie bestehen und wie sie funktionieren. In Bezug auf psychische Probleme hängt damit zusammen, wie die Beziehung zwischen Körper und Geist gesehen wird, was eine „Person“ oder ein „Selbst“ ausmacht. In unserer Kultur spielt zum Beispiel die Dichotomisierung von Körper und Geist eine große Rolle, auch wenn diese Auffassung heute in vielen therapeutischen Ansätzen zu überwinden versucht wird. Die Ethnologie liefert viele Beschreibungen von Konzepten der Person, die nicht nur Körper und Geist/Seele als eine Einheit sehen, sondern diese auch mit relativ durchlässigen Grenzen ausstatten, so dass ein Selbst auch andere Wesenheiten einschließen kann. Das nennt man dann „Besessenheit“.
Eine neue spannende Forschungsrichtung der Ethnologie untersucht die moderne Institution der Psychiatrie mit den Methoden der ethnologischen Forschung. Dazu gehört zum Beispiel die sogenannte hospital ethnography, in der eine Feldforscherin teilnehmende Beobachtung in einer psychiatrischen Klinik durchführt. Solche Forschungen hier in Deutschland können zum Beispiel Aufschluss geben über die verschiedenen Sichtweisen von Patienten und Psychiatern und wie diese das Verständnis von Krankheit und Gesundheit prägen. So kann man etwa zeigen, dass nicht nur die „Anderen“ medizinische Praktiken kulturell konstruieren, sondern auch wir selbst. Die Ethnologie sollte neue Einsichten vermitteln, die einfache Schwarz-Weiß-Gegenüberstellungen in Frage stellen.
Die Ethnologie ist ja eines der Fächer, das in der Transkulturellen Psychiatrie aktiv ist – insgesamt kann man sagen, dass viel Interdisziplinarität gefragt ist. Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie in der Interdisziplinarität?
Ich sehe große Chancen und Herausforderungen. Wenn man zum Beispiel als Ethnologin solche Institutionen untersucht, ist es doch sehr wichtig, die Forschung zu kennen, die von Medizinhistorikern oder anderen Historikern oder Psychiatern auf dem Gebiet geleistet wird. Die Fragestellungen sind ja zum Teil sehr verschieden. Das größte Problem der Interdisziplinarität ist, dass man sehr oft aneinander vorbeiredet, weil jedes Fach eine andere Vorstellung davon hat, worum es geht. Man muss zunächst eine gemeinsame Sprache entwickeln. Aber darin sehe ich auch eine große Chance der Interdisziplinarität. Sie kann dazu beitragen, dass man die Begrifflichkeiten und Sprachen, die verschiedenen Fragestellungen und Blickwinkel besser versteht und sie sich ergänzen können. Damit können auch praktische Probleme anders verstanden werden.
Wie kann Interdisziplinarität in der Praxis aussehen?
Ich kann es wieder in Bezug auf Indien schildern: meine Forschung ist nicht nur interdisziplinär orientiert, weil ich versuche, die Psychiatrie zum Gegenstand von ethnologischer Feldforschung zu machen, sondern auch weil zum Beispiel meine Forschungsassistentin eine ausgebildete Psychologin ist. Und obwohl sie Inderin ist, ist sie nie vorher an rituellen Heilzentren gewesen, die Teil meines Forschungsprojektes sind. Anfangs dachte sie, dass alles, was wir dort zu sehen bekamen, reiner Aberglaube sei, von dem man die Menschen befreien müsse. Durch unsere gemeinsame Feldforschungspraxis aber, in der sie auch viele Interviews mit Kranken und ihren Angehörigen geführt hat, konnte sie eine neue Sicht entwickeln. Sie versteht, dass diese die „Erklärungsmodelle“ – ganz im Sinne der Psychologie – als Hilfe einordnen, ihre „Probleme zu bewältigen“. Sie findet, dass ethnologische Forschung auch für ihre Arbeit als Psychologin wichtig geworden ist. Sie arbeitet in einer NGO daran, die Anstaltspsychiatrie und zum Beispiel die Situation von Schizophreniekranken zu verbessern. Für diese Arbeit konnte sie für sich aus der Erfahrung der Feldforschung in ihrer eigenen Kultur, die ihr wesentlich fremder war als mir, neue Erkenntnisse ziehen. So wurde ihr zum Beispiel klar, dass Leute nicht nur deshalb zu einem traditionellen Heilort gehen, weil sie abergläubisch und ungebildet sind, sondern weil sie dort andere Strukturen vorfinden, zum Beispiel solche, die „Verrückte“ nicht ausgrenzen, sondern ihnen einen speziellen Raum für die Artikulation ihrer Leiden geben.
Diese Erfahrung ist für mich ein gutes Beispiel für praktische Interdisziplinarität, die bewirkt, dass man neue Erfahrungen durch den Kontakt mit einer anderen Disziplin im eigenen Kontext umsetzen kann. In diesem Fall bedeutet dies, dass sie versucht, solche „offenen“ oder – wie die Bremer Ethnopsychoanalytikerin Maya Nadig sagen würde – „Übergangsräume“ im Kontext der Anstaltspsychiatrie zu schaffen.
Bei allen Diskussionen um Leitkultur und Zukunft der Zuwanderung: welche gesellschaftspolitische Relevanz hat die Transkulturelle Psychiatrie?
Das ist eine gute Frage, die ich mir auch in letzter Zeit immer wieder gestellt habe. Vor allem, weil es immer wieder deutlich wird, dass die Psychiatrie bzw. die Transkulturelle Psychiatrie nach wie vor einen sehr marginalen Status einnimmt und vergleichsweise wenig Forschungsgelder erhält. Für die meisten sind psychische Erkrankungen immer noch Phänomene, die nur am Rande oder gar nicht interessieren. Dies scheint jedoch kurzsichtig, auch besonders dann, wenn es um das Verständnis von psychisch erkrankten MigrantInnen geht. Auch die Psychologie wäre da angesprochen, die sich meiner Meinung nach noch viel zu wenig – aber natürlich gibt es auch sehr engagierte Initiativen – mit der Frage befasst, welche psychologischen Aspekte mit den Begegnungen oder Nicht-Begegnungen zwischen der Aufnahmegesellschaft und Migranten verbunden sind. Hier könnte auch die Psychologie noch viel leisten.
Also Sie glauben, dass die Transkulturelle Psychiatrie auch Antworten geben könnte auf Fragen nach Zuwanderung und Integration?
Ja, jedenfalls dann, wenn man die Zusammenarbeit ausweiten würde. Wenn man sich stärker auch mit den persönlichen Erfahrungen von Fremdheit befassen und erforschen würde, wie diese erlebt wird. Nach dem Erscheinen des Buchs von Sarazzin (Deutschland schafft sich ab, 2010) zum Beispiel, haben Umfrageergebnisse und Statements unserer Mitbürger mich gelegentlich fassungslos gemacht. Mögen wir unsere Migranten? Offenbar nicht. Welche Rolle spielen Gefühle in den Wahrnehmungen von Selbst und Anderen? Psychologen könnten helfen, wechselseitige Stereotypien aufzulösen, zum Beispiel in dem sie zeigen „was macht das eigentlich mit mir, wenn ich in Situationen bin, wo ich mit Leuten zu tun habe, die ich nicht verstehe?“
Das, denke ich, wären Möglichkeiten, wie man die Zusammenarbeit von EthnologInnen und den „Psycho-ExpertInnen“ noch erweitern könnte, über Fragen nach Krankheit und Gesundheit hinaus. Vielleicht ließen sich Methoden entwickeln, die dazu beitragen, dass es allen Beteiligten leichter fällt, sich aufeinander einzulassen oder sich zumindest mit den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen, die es ja auch auf der Seite der Migranten gibt.
Gibt es am Institut für Ethnologie in Münster Projekte in Lehre und Forschung, die in eine solche Richtung gehen?
Ja, wir sind dabei, ein größeres Forschungsprojekt zu entwickeln zu Kultur und Psychiatrie. Und ich arbeite auch mit Maya Nadig zusammen. Wir sind dabei, gemeinsam Workshops zu entwickeln. Zunächst für Studierende, aber man kann sich auch gut vorstellen, dass man diese Methode ausweitet und zum Beispiel dann solche Workshops mit Leuten durchführt, die in Institutionen arbeiten, in denen sie mit Migranten zu tun haben, also sowohl in der Psychiatrie als auch in anderen Institutionen, zum Beispiel bei Krankenkassen oder Ausländerbehörden. Wenn man sie davon überzeugen könnte, dass es durchaus Spaß machen kann, sich auf Neues einzulassen.
Wenn Sie sich etwas wünschen dürften: was soll in den nächsten Jahren in diesem Bereich passieren?
Ich würde mir wünschen, dass der Erfahrungsaustausch erweitert werden könnte, dass man zum Beispiel einen regelmäßigen Austausch mit Experten und Organisationen aus verschiedenen Ländern hätte, aus Afrika, Brasilien, Indien, China. Dass man vielleicht zweimal im Jahr Leute einladen könnte, die aus ihren jeweiligen Gesellschaften von ihren Psychiatriesystemen berichten, und von ihren Erfahrungen mit verschiedenen Systemen der Behandlung. Wichtig wäre auch der direkte Austausch über die Fragen und Probleme, mit denen sie sich gerade auseinandersetzen, was sie verändern möchten und wie sie alternative Heilmethoden sehen.
Außerdem fände ich die Entwicklung eines eigenen interdisziplinären Masterstudienganges gut, bei dem Ethnologen, Psychologen, Mediziner und vielleicht auch Erziehungswissenschaftler zusammenarbeiten, also alle Fächer, die sich mit psychischen Leiden beschäftigen.
Das Interview wurde für ethmundo.de geführt von Veronika Wolf
Veronika Wolf studierte Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war 2010 Mitglied der interdisziplinären Arbeitsgruppe zur Transkulturellen Psychiatrie in Münster.