Medizinethnologie

Alltägliche Krisen: Flucht, Medizin und Migration. Ein Denkeinstieg

Janina Kehr

Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Leipzig Dölitz

Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete Leipzig Dölitz | 07.08. 2015 | Credits: Caruso Pinguin https://www.flickr.com/photos/110931166@N08/19755672574/in/album-72157656515350228/

Als in Frankreich lebende Ethnologin[*] war ich wortlos, ja geradezu ideenlos, als tagtäglich von „der Flüchtlingskrise“ und Deutschlands Aufenthaltslagern, politischen Ansprachen, von rechten Anschlägen und humanitären Aufnahmeaktionen, von scharfen Anklagen und hilflosen Antwortversuchen in den Medien berichtet wurde. Ich konnte mir schlichtweg kein Bild machen von der Situation in dem Land, dessen Staatsbürgerschaft ich besitze. Und noch weniger konnte ich einen Rahmen finden, um das Ganze zu denken oder zu problematisieren – nicht nur als Bürgerin, sondern auch als Ethnologin. Die empfundene, radikale Neuheit der Situation war gekoppelt an ein Gefühl des stetig wiederkehrenden Déjà-vu: Mir kamen Bilder der in einer Turnhalle untergebrachten Migrant_innen nach der Räumung eines besetzten Gebäudes in der Nähe von Paris in 2008 in den Sinn, die ich im Rahmen meiner Forschung zu Tuberkulose kennengerlernt hatte; ich dachte an die Solidarität französischer Bürger_innen mit Flüchtlingen im und um das französische Camp Sangatte, das 2002 geschlossen wurde; der Film Welcome von Philippe Lioret kam mir wieder in Erinnerung. Was ist also neu an der aktuellen „Flüchtlingskrise“ in Deutschland und was ist ihre Wiederkehr an anderen Orten in Europa? Wie können Ethnolog_innen die jetzige „Krise“ denken? Können und sollen wir sie, als Ethnolog_innen, anders denken?

Ethnolog_innen sind nicht für schnelle Reaktionen oder rasche Lösungsvorschläge berühmt geworden. Im Fach geht es, früher wie heute, um Innenansichten, die nur durch longue durée, durch „Tiefe“ und „Dichte“ in der Forschung erreicht werden können. Dies braucht Zeit. Und dennoch scheint es immer schwieriger, substantielle Forschungs-und Reflektionszeit herzustellen und zu gebrauchen. Warum? Zum Einen verändern sich zeitgenössische ethnologische Forschungsfelder extrem rasch, wie es zum Beispiel Paul Rabinow (2008) für die Lebenswissenschaften, mit denen sich ja auch die Medizinethnologie auseinandersetzt, beschrieben hat. In solchen Feldern muss ethnologische Forschung mit schnellen Entwicklungen umgehen, und damit auch ihre methodischen Zeitlichkeiten hinterfragen. Aber auch ganz unabhängig von sich schnell verändernden Forschungsfeldern wird das Weltgeschehen heute grundsätzlich vermehrt als kontinuierliche Abfolge von Krisen und Notfällen problematisiert. Eine „world of emergencies“ ist ständig im Entstehen begriffen. Craig Calhoun (2004) hat dies schon vor über zehn Jahren beschrieben. In dieser Welt der Notfälle geht es um rasche Interventionen und schnelle Lösungen. Es geht um Einsätze, ums Tun, ums Agieren, und nicht in erster Linie um das Nachdenken und Reflektieren über das Tun. Dies stellt Ethnolog_innen aber einmal mehr vor die Frage: Wie können, sollen und wollen wir zeitnah auf ein „Problem“, eine „Krise“, einen „Notfall“ reagieren und in ihr agieren? Wie können wir uns zu etwas verhalten, für das es keine schnelle Lösung geben kann, für das aber dennoch rasche Interventionen ebenso wie klare politische Haltungen gefordert sind? Wie können wir den Begriff „Flüchtlingskrise“ selbst problematisieren, und dabei dennoch der schieren Materialität und Bedeutung des Phänomens im Hier und Jetzt gerecht werden? Ist eine Rückkehr zu „slow research“ (Adams, Burke & Whitmarsh 2014), wie es Medizinethnologinnen im hochdynamischen Feld der Global Health vor Kurzem gefordert haben, eine Antwort? Und wo sind die blinden Flecken einer Forschung, die sich ständig ändernden Krisen, Krisennarrativen und Notfällen folgt, ohne ihrer historischen Zeitlichkeit und Alltäglichkeit nachzugehen?

 

Alltag in der Krise

In Bezug auf die „Flüchtlingskrise“, und gerade im Hinblick auf die Frage der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland, stellt sich die Frage nach schnellem Reflektieren genauso so dringend wie die der Geschwindigkeits- und Krisenorientierten Forschung und ihren blinden Flecken. Menschen sind jetzt auf der Flucht vor Krieg, Hunger, und Entbehrung. Sie brauchen jetzt Zufluchtsorte, die sie derzeit in Europa aber auch an vielen anderen Orten der Welt suchen. Sie brauchen jetzt medizinische Versorgung, die im deutschen Gesundheitssystem nur sehr begrenzt für Flüchtlinge, Asylbewerber_innen und undokumentierte Migrant_innen angelegt ist. Und dennoch wird bei aller Dringlichkeit zur schnellen Reflektion klar, dass es nicht reicht, rasch nachzudenken, sondern dass es ebenso wichtig ist, sich in Erinnerung zu rufen, dass ethnologische Forschung nicht umsonst in erster Linie jenseits von Krisen und krisenhaften Ereignissen angesiedelt ist, im Alltag selbst, wie es Veena Das und andere Ethnologen immer wieder zeigen (Das 2015). In ethnologischer Forschung sind Ereignisse, auch krisenhafte, immer schon mit dem Alltäglichen verbunden, „als ob sich Tentakel in den Alltag erstrecken, um dort Ereignisse auf spezifische Art und Weise zu verankern“ (Das 2007: 7-8). Für Veena Das sind also Ereignishaftes und Alltägliches nicht auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, sondern immer schon verknüpft.

In solch einer Perspektive wird klar, dass permanente Krisen heutzutage immer auch Alltag sind, dass die Unterscheidung zwischen Krise und Alltag ihren Sinn verloren hat. Dies ist nicht nur der Fall in den Medien, die ständig von worlds of emergencies berichten und damit diese auch herstellen, sondern auch im alltäglichen Leben derer, die nicht mit all den Sicherheiten rechnen können, die viele in Deutschland nach wie vor als selbstverständlich ansehen: ein Dach über dem Kopf, Sicherheit vor politischer Verfolgung, ein Mindestmaß an ökonomischem Auskommen, Zugang zu medizinischer Versorgung. In diesem Gegenüber von Krise und Alltag, von Außerordentlichkeit und Norm steckt die Frage des Vergleichs, wie Janet Roitman argumentiert. Denn eine Krise zu evozieren beinhaltet die Referenz zu einer Norm, und benötigt damit immer auch ein vergleichendes Moment: „Krise im Vergleich wozu?“ (Roitman 2014). Was ist der Vergleichsmoment der Flüchtlingskrise? Krise für wen, und für wen auch nicht? Die Situation fliehender Menschen, die nach Deutschland kommen, als Krise zu definieren, bedeutet, sie von „normalen“ Zuständen, Zeiten und Orten abzugrenzen. Aber Krisen können heutzutage gar nicht mehr außerhalb normaler Zuständen gesehen werden. Die Ethnologie beschreibt Krisen in ihrer Alltäglichkeit, und zeigt damit, dass Krisen in der Verquickung von Norm und Außerordentlichkeit, von zeitlicher Begrenztheit und Chronizität, von Sichtbarkeit und Latenz einen Deutungsraum aufmachen, der ganz unterschiedlich besetzt, gelebt und erzählt werden kann.

Flucht und Zuflucht, Migration und Verheimatung sind an vielen Orten der Welt alltäglich, und Ethnolog_innen arbeiten seit mindestens zwei Jahrzehnten zu diesen Themen. Auch haben Ethnologinnen gezeigt, dass medizinische Versorgung an sich ein prekäres Gut ist, das längst nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist, und schon gar nicht in gleichem Maße für alle zugänglich. Gerade im Hinblick auf medizinische Versorgung haben Ethnologinnen „chronische Krisen“ (Vigh 2008), sowie Improvisation und Instabilitäten im medizinischen Alltag untersucht, und damit auch den unterschiedlichen Wert menschlicher Leben (Livingston 2012; Marsland and Prince 2012; Street 2014). Als in Europa arbeitende Ethnologin gehöre ich nicht zu denjenigen, die solch „chronische Krisen“ als Alltag woanders beobachten, beschreiben und zu verstehen versuchen, sondern „zu Hause“. Zu Hause ist hier nicht als absoluter Begriff gemeint, sondern als relationaler, der Befremdlichkeiten und Selbstverständlichkeiten der Ethnologin, entstehend durch eine geographische Nähe von Lebens- und Forschungsort, immer wieder neu hinterfragt. Denn auch in Deutschland sind in der Medizin krisenhafte Alltage, wie sie für außereuropäische Kontexte beschrieben wurden, nicht ungewöhnlich, genauso wenig wie die unterschiedliche Wertigkeit von Menschenleben. Nur geraten sie in der Regel lediglich an den Rändern der medizinischen Versorgung in den Blick, in Abschiebelagern, Flüchtlingsheimen, und Roma-Camps, also genau an den Orten, um die es in der Flüchtlingskrise heute auch geht.

 

Existierende Forschungen

Zu diesen Orten im Herzen Europas gibt es eine große Anzahl ethnologischer Forschung, wie auch zur Frage der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen und MigrantInnen. Ein Nachdenken über und mögliches Agieren der Medizinethnologie in der Flüchtlingskrise kann also sein, schlicht und einfach zunächst Forschungen sichtbar zu machen, die genau die Problemlagen und Orte jenseits von Krisen untersucht haben, mit denen wir heute „in der Krise“ konfrontiert sind: Wer hat Zugang zu medizinischer Versorgung, wer nicht und warum ist das so? Wie gestaltet sich die medizinische Versorgung derer, die von ihr strukturell ausgeschlossen sind? Wie passiert medizinische Versorgung in humanitären Kontexten in Europa? Wie suchen sich migrantische Patient_innen Versorgungswege jenseits der Öffentlichkeit?

Im Wiederlesen solch kritischer ethnologischer Forschung, die besonders im französischsprachigen Raum schon seit 15 Jahren etabliert ist und die sich mit solchen Fragen auseinandersetzt, wird klar, dass die derzeitige Flüchtlingskrise weder so neu ist wie sie oft seitens der Medien und deutschen Politikern dargestellt wird, noch dass sie unerwartet passiert. Seit Jahrzehnten warnen Ethnolg_innen, auch im Bereich der Medizinethnologie, vor den Auswirkungen der europäischen Abschottungspolitik und eines Regimes medizinischer Ausnahmezuständen für Asylbewerber_innen, Flüchtlinge und undokumentierte Migrant_innen. Insofern sind die derzeitige „Flüchtlingskrise“ und konkrete Probleme, die es bei der medizinischen Versorgung gibt, gar nicht unähnlich der Ebola-Krise in Westafrika, die der Medizinhistoriker Guillaume Lachenal als eine „systematische Vorbereitung des Nicht-Vorbereitetseins“ (Lachenal 2014) beschrieben hat.

Zu dieser Vorbereitung des Nicht-Vorbereitetseins gehören eine Reihe von Dimensionen, die Ethnolog_innen in europäischen Kontexten beschrieben haben: alltägliche Probleme mit medizinischer Versorgung in der migrantischen Illegalität oder Prekarität (Huschke 2011; Huschke 2014; Kehr 2015; Larchanché 2012; Ticktin 2011); Spannungen zwischen einem Recht auf Medizin und einer humanitären Pflicht zur Versorgung (Castañeda 2011; Fassin 2005; Fassin 2001; Ticktin 2006; Ticktin 2005); die machtvollen Verknüpfungen von Medizin, Politik und Bürokratie in der Migration (Fassin & D’halluin 2005; Kehr 2012; Öhlander 2004); die Mächtigkeit europäischer Migrationsregime (Fassin 2011); der ungleiche Zugang zu medizinischer Versorgung von Migrantinnen (Carde et al. 2002; Izambert 2010; Nacu 2010). All das sind Themen, die Ethnolog_innen seit Jahren behandeln und die heute aktueller sind denn je. Auch haben Ethnolog_innen auf die Problematik von Prozessen der Kulturalisierung hingewiesen, bei denen durch eine Fokussierung auf kulturelle Differenz die Gefahr besteht, Fragen struktureller Gewalt, sozialer Ungleichheit und politischer Rationalitäten auszublenden (Cognet, Hoyez & Poiret 2012; Fassin 2004; Kotobi 2000; Mbaye 2009). Ebenfalls wurden Prozesse der Stereotypisierung und Auflösung von Unterschieden innerhalb migrantischer Lebensläufe und Problemlagen kritisiert, die zu Stereotypisierungen und damit der Konstruktion radikaler Andersheit führen, anstelle diese auch immer wieder zu relativieren und kritisch zu hinterfragen (Bauman 2005; Kehr 2011; Nacu 2011; Rechtman 2000). Ethnolog_innen haben schließlich vermehrt die Gefahren einer Verknüpfung unterschiedlicher bürokratischer Regime wie Polizei und öffentliche Gesundheit beleuchtet (Alunni 2015; Kehr 2011), und sind dabei Studien aus der politischen Ethnologie und der Ethnologie des Rechts gefolgt (Fassin 2015; Kobelinsky 2009; Kobelinsky, Makaremi & Collectif 2009; Malkki 1995; Reckinger 2013; Scheffer 2001; Spire 2008). In ihrer Funktion als Wissenschaftler_innen produzieren, kontextualisieren und problematisieren Ethnolog_innen also schon seit einiger Zeit das Verhältnis von Politik, Migration, Asyl, Differenz und Gesundheit, Krankheit und Medizin. Gerade in politischen Krisensituationen ist es wichtig, dies auch weiter zu tun, aus der Perspektive der Menschen, die auf der Flucht sind, aber auch aus der Sichtweise derer, die sie versorgen und „verwalten“.

Daher folgt hier unten der Anfang einer Liste von Artikeln und Arbeiten, in denen Ethnolog_innen bereits über Medizin, Asyl und Migration in Europa als alltägliches gelebtes, politisches und bürokratisches Vorkommen geschrieben haben. Es handelt sich dabei weniger um eine vollständige Bibliographie als um den Anfang einer kollektiven Literaturliste zur ständigen Erweiterung, einer Wissensplattform die auch durch „die Krise“ hindurch Bestand haben kann. Die Liste ist ein erster Anstoß, um über die derzeitige Krise anders nachzudenken, nämlich nicht nur als Krise, sondern als alltägliches Phänomen, durch das Prozesse des Ein- und Ausschlusses und der unterschiedlichen Wertigkeit menschlicher Leben, aber auch die Paradoxien von Politik, Bürokratie und Migration, sowie die machtvollen Spannungen medizinischer Versorgung sichtbar werden. Solche Texte können dabei helfen, zu historisieren, zu kontextualisieren, zu verfremden, und zu vergleichen. Sie können helfen, eine Vielzahl von Stimmen und Problematisierungen zu finden im Wirrwarr des alltäglich krisenhaften Jetzt.

[*] Janina Kehr ist Ethnologin an der Universität Zürich und assoziiertes Mitglied am Zentrum Geschichte des Wissens. Sie arbeitet zum Verhältnis von Politik und Gesundheit in Europa und promovierte im November 2012 mit einer Arbeit zu Tuberkulose und Public Health in Frankreich und Deutschland an der École des hautes études en sciences sociales in Paris und dem Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin. In ihrem neuen Forschungsprojekt fragt sie nach den Biopolitiken der Austerität in Spanien nach der Finanzkrise. Sie lebt seit 10 Jahren in Frankreich.

 

Literatur

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