Caroline Meier zu Biesen
„Die Malaria der Migranten – das Gesundheitsministerium räumt ein: wir importieren die Krankheit durch die Ausländer“ titelte Anfang September 2017 die italienische Zeitung Libero. Anlass des Berichts: Der Malaria-Tod einer Vierjährigen im norditalienischen Brescia. Mit Ausnahme einiger lokal akquirierter Malariainfektionen („Airport-Malaria“) wurden nach 1974 keine autochthonen Malaria-Fälle mehr in Europa registriert. Der Malariafall erregte entsprechendes Aufsehen in den Medien und unter der europäischen Ärzteschaft (ProMED 2017), denn das Mädchen war selbst nie in einem Endemiegebiet gewesen. Im Krankenhaus in Trient war sie ursprünglich wegen Diabetes behandelt worden. Zum Zeitpunkt ihres Aufenthalts befand sich dort auch ein an Malaria erkranktes Geschwisterpaar aus Burkina-Faso. Dieses hatte sich während eines Heimaturlaubes infiziert. Bald wurde gemutmaßt, im Gepäck der afrikanischen Familie sei eine infizierte Überträgermücke in die Klinik eingeschleppt worden. Obwohl dies aus medizinischer Sicht als äußerst unwahrscheinlich gilt, hielt sich diese Hypothese hartnäckig in den Medien.
Fremd, krank, gefährlich, ansteckend: Mit diesem Feindbild arbeiten einige Medien und auch ein Teil der offiziellen Gesundheitsversorgung in Italien. Der Fall des Mädchens zeigt beispielhaft Konfliktfelder auf, die Salvatore Geraci, Historiker mit Schwerpunkt Migrationsmedizin, mit dem Begriff Salgari Syndrom beschreibt: Das Leiden unter Vorbehalten, falschen Imaginationen von „fremden“ Kulturen. Der Begriff Salgari Syndrom geht auf den Veroneser Schriftsteller Emilio Salgari zurück. Dieser erzählte konsequent aus der Perspektive eines mysteriösen Fremden von zivilisationsfernen Abenteuer-Settings im Zeichen von „Exotik“, ohne selbst je gereist zu sein. In ähnlicher Form, das heißt ohne inhaltliche Auseinandersetzung, werden aktuell Ängste in den Vordergrund geschoben, wie etwa die vor ansteigenden Infektionen, um MigrantInnen als „Gefahr für die Volksgesundheit“ darzustellen (vgl. Heinz & Kluge 2012).
Seit dem Scheitern des Arabischen Frühlings (sowie den Krisen in Nahost) steigt in Italien die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer einzureisen versuchen. Der Großteil derer, denen die Einreise gelungen ist (62 %), hat sich im Norden Italiens niedergelassen (Wisthaler 2015:9).
Medizin und Migration: Der Kongress
Der Fachkongress ‘Medizin und Migration’ wurde am 23. September 2017 in Bozen durch Salvatore Geraci eröffnet (Podcast zur Sendung ‚Sprechstunde‘ des Senders RAI Bozen über die Konferenz Medizin und Migration, ausgestrahlt am 30.10.2017). Mit Bezug auf die Geschichte der Migrationsmedizin in Italien in den letzten 45 Jahren dekonstruierte der Historiker Stereotypen der Infektiologie im Migrationskontext. Zudem berichtete er von Widerständen auf politischer Ebene als auch von Seiten der Ärzteschaft bei der Entwicklung von medizinischen Betreuungsstrukturen für MigrantInnen. Trotz Widerständen seitens der (Südtiroler) Regierung wurden etwa durch zivilgesellschaftliche Initiativen (wie Società italiana di Medicina e delle Migrazioni) in den letzten Jahren Gesundheitsversorgungseinrichtungen für (‘irreguläre’) MigrantInnen initiiert.
Vorurteile im medizinischen Alltag abbauen, und die Auseinandersetzung um das komplexe Themenfeld „Migration und medizinische Versorgung“ versachlichen – dies waren die Anliegen der Veranstalter des Kongresses, Tanja Nienstedt, Benedikter Maximilian und Astrid Santoni. Zielgruppe der Veranstaltung war das medizinische Personal des Südtiroler Sanitätsbetriebes (leitende ÄrztInnen, Hebammen, KrankenpflegerInnen, PsychotherapeutInnen) und VertreterInnen anderer Organisationen, die im Flüchtlings-und Migrationsbereich tätig sind. Ebenso geladen waren die Soziallandesrätin Martha Stocker sowie die Leitung des Südtiroler Sanitätsbetriebs (Thomas Lanthaler, Marianne Siller).
Die Besonderheit der Veranstaltung lag im Brückenschlag zwischen akademisch verorteter historischer und sozialanthropologischer Auseinandersetzung mit Migration und Medizin, und den Erfahrungen praktisch engagierter Berufstätiger und Freiwilliger. Ziel war es, theoretisches wie praxisrelevantes Wissen zur Gesundheitsbetreuung von MigrantInnen anzubieten, und länderübergreifende Netzwerke zu schaffen. Diesen ersten (als Fortbildung konzipierten) Kongress wollten die Veranstalter nutzen, um besondere Lernbedarfe zu identifizieren, um so medizinisches Personal gezielter weiterzubilden zu können.
Tanja Nienstedt arbeitet seit über 20 Jahren als Allgemeinärztin in Bozen und ist Vizepräsidentin des Vereins „World Doctors“ . Die thematische Ausrichtung des Kongresses folgte ihrer Überzeugung, dass die medizinische Fachkenntnis durch sozial- und kulturwissenschaftliche Kompetenzen ergänzt werden müsse.
Unter das Oberthema „Migration und Medizin“ fallen eine Vielzahl von Frage- und Problemstellungen: Neben medizinischen Themen im engeren Sinne, wie etwa Krankheit als Folge von Migration oder unterschiedliche Krankheitshäufigkeiten bei spezifischen Migrantengruppen (Knipper & Bilgin 2009), spielen vor allem auch sozio-kulturelle, administrative und ökonomische Fragen der Gesundheitsversorgung eine wichtige Rolle (vgl. Huschke 2013).
Zunehmend mehr Menschen leben in transnationalen, grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen mit teilweise wechselnden Lebensmittelpunkten (Schiffauer 2006). Die gesellschaftlichen Veränderungen und die wachsende Komplexität von Lebensverhältnissen haben ein starkes Verunsicherungspotential. Auch die therapeutische Praxis und die Beziehung zwischen PatientInnen und medizinischem Fachpersonal sind von diesen gesellschaftlichen Veränderungen betroffen (Adam & Krause 2010; DTPPP e.V.). Wie Knipper und Bilgin (2010:76) betonen, gehört es zu den Aufgaben von medizinischem Fachpersonal, Nutzen sowie Risiken einer therapeutischen Handlung abzuwägen. Ein ähnliches Vorgehen ist auch im Hinblick auf die populären Begriffe „Migration“ und „Kultur“ erforderlich. Bildlich gesprochen gilt es auch hier, eine Abwägung von „Indikationen und Nebenwirkungen“ vorzunehmen, um die im politisch-gesellschaftlichen Kontext relevanten Begriffe in der Medizin sinnvoll anwenden zu können.
Die Vereinigung einer medizinischen mit einer sozialanthropologischen Sichtweise wird dabei als Vorbedingung begriffen, um eine an der „realen Lebenswelt der betroffenen Menschen orientierte Medizin auszuüben“ (Stülb & Adam 2010; siehe auch AMIKO). Wie medizinethnologische Studien zeigen, stellen sogenannte „kulturelle Faktoren“ nur einen Aspekt unter mehreren dar, die die Krankheitserfahrungen von MigrantInnen prägen. Aufenthaltsstatus, unterschiedliche Migrationsgründe, religiöse Überzeugungen oder das soziale Kapital (in Form von Netzwerken) spielen eine ebenso gewichtige Rolle (Knipper & Bilgin 2009).
Dieser Überzeugung folgend ist auf dem Kongress das Thema Migration für die Medizin aus einer interdisziplinären Perspektive heraus vorgestellt worden. 15 (inter-)nationale ReferentInnen deckten eine Vielfalt an Themen ab: von der praxisnahen Gesundheitsversorgung und medizinischen Aspekten, (un-)sichtbaren Folgen der Flucht bis hin zu der Rolle des medizinischen Personals und der KulturmediatorInnen sowie medizinethnologischen Aspekten von Migration/Kultur und des Sterbens. Die hohe Anzahl von Kongressbesuchern (250 von eigentlich nur 200 zugelassenen Plätzen), so die VeranstalterInnen, zeugte von dem Bedürfnis, sich nicht nur praxisrelevantes Wissen, sondern auch interkulturelle Kompetenzen anzueignen.
„Im Überlebensmodus“: Medizinische Erstversorgung von Geflüchteten in Italien
Im Zentrum der Einführung des Kongresses standen die strukturellen Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung. In Bozen wurden bis August 2017 etwa 1.700 Menschen in 23 Aufnahmeeinrichtungen aufgenommen, so Landesrätin Stocker. Hinzukommen Durchreisende und sogenannte fuori quota („außerhalb der Quote“), Flüchtende ohne „definitiven Status“. Die Zahl dieser „Irregulären“ ist in der letzten Zeit angewachsen. Seit Österreich und Deutschland ihre Grenzen strenger kontrollieren, Rücknahmevereinbarungen eingehen und das Dublin-Abkommen verstärkt angewendet wird (vgl. Jakob & Schlindwein 2017), gleicht Südtirol dem Ende einer Sackgasse. Die wachsende Zahl Flüchtender verschärft bestehende strukturelle Mängel (z.B. im Bereich geeigneter Einrichtungen, vgl. Falge & Schmidtke 2015).
Obwohl regionale Immigrationspolitiken von den Vorgaben auf europäischer Ebene abhängen, können sich Integrationspolitiken deutlich von jenen auf nationaler Ebene unterscheiden. Dies gilt umso mehr, da regionale Politiken unmittelbarer auf den lokalen Kontext reagieren können (Wisthaler 2015:76ff). Bozen hat weitreichende Autonomierechte und verfügt im Vergleich zu anderen italienischen Regionen über erweiterte politische Handlungsspielräume, die hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung von MigrantInnen bereits beispielhaft genutzt wurden.
So wurden im Eilverfahren vier Erstaufnahmezentren eingeführt. In die Bozener Erstaufnahmestrukturen, die STP-Ambulanz (Stranieri Temporamente Presenti), kommen vorrangig sogenannte Lampedusa-Flüchtlinge. In dieser Phase der Behandlung sind psychologische Aspekte zweitrangig, da die Menschen noch „im Überlebensmodus“ sind. Die Fluchtwege über die Adria oder über das tyrrhenische Meer gehören zu den gefährlichsten. 2016 bleibt als das annus horribilis der Einwanderung nach Italien in Erinnerung, denn 5022 Menschen (die Dunkelziffer ist deutlich höher) haben in diesem Jahr bei dem Versuch der Überquerung des Mittelmeers ihr Leben verloren (UNO 2017).
Im selben Jahr wurden 1012 Menschen in der Bozener STP medizinisch (not-) versorgt. Maximilian Benedikter ist leitender Arzt der Anästhesie im Krankenhaus Bozen und Initiator/Leiter der STP-Ambulanz. Ihm zur Seite steht ein Team aus ÄrztInnen und PflegerInnen, darunter Astrid Santoni, die als Pflegekoordinatorin die Poliambulatorien des Bozener Krankenhauses und die Flüchtlingsbetreuung in Südtirol (inklusive STP) koordiniert. Beide kritisierten in ihren Vorträgen die unsachliche Berichterstattung in den Medien über angeblich steigende Infektionskrankheiten. MigrantInnen, so die Vortragenden, seien nicht die Ursache von Gesundheitsproblemen; weitaus problematischer seien die in Sammelunterkünften produzierten Gesundheitsprobleme (vgl. Dhesi et al. 2017).
Gesundheitliche Beschwerden bei Flüchtlingen hängen ursächlich meist mit den schwierigen Reisebedingungen und der dabei erfahrenen Gewalt zusammen. Gleichwohl, so die ergänzenden Beiträge von Claudio Vedovelli (geschäftsführender Chefarzt Infektiologie im Krankenhaus Bozen) und Monica Bevilacqua (leitende Ärztin, Dienst Hygiene und Öffentliche Gesundheit), muss das tabubesetzte Thema Infektionskrankheiten – etwa der Anstieg von Tuberkulose in den Lagern – offen thematisiert werden, um der Entstehung von Vorurteilen entgegenzuwirken.
Um der politischen Verantwortung gerecht zu werden, so wurde betont, müssen Maßnahmen der Gesundheitsförderung ergriffen werden, die sowohl spezifische Versorgungsbedürfnisse (von Frauen/Schwangeren) berücksichtigen, als auch Prävention (flächendeckende Impfungen) und menschenwürdigere Unterbringungen.
Ferner wurde die erschwerte sprachliche Kommunikation (hier: Englisch) zwischen PatientInnen, dem medizinischen Personal und den Ehrenamtlichen thematisiert, die vor allem mit dem sich verändernden Charakter der Migration verknüpft ist. Während bei früheren Migrationsbewegungen die Gesündesten, Gebildetsten (gezielt) nach Südtirol einwanderten (zur Diskussion des healthy-migrant-effects siehe Elkeles & Seifert 1996), sind es derzeit im Hinblick auf Herkunft, Alter, Geschlecht und soziales Milieu heterogene und vulnerablere Gruppen, die zufällig in Bozen landen. Diese weisen nicht nur unterschiedliche gesundheitliche Zustände und Verhaltensweisen in Bezug auf die Inanspruchnahme der örtlichen Gesundheitsversorgung auf. Auch fehlen ihnen bilaterale Netzwerke, eine entscheidende Ressource für die Bewältigung der vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen sie sich nach ihrer Ankunft konfrontiert sehen (Schiffauer 2006).
Stabilisierung unter instabilen Bedingungen: Therapeutische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen
Der zweite Teil der Veranstaltung wurde durch Ulrike Schneck, Psychotherapeutin und Leiterin der Regionalstelle Tübingen für „Refugio Stuttgart e.V.“ eingeleitet. Das psychosoziale Zentrum bietet psychotherapeutische Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen, Folterüberlebenden und ihren Angehörigen an. Schneck führte in die Besonderheiten dieser therapeutischen Arbeit ein und sprach, wie ihre Vorredner, den Ankunftsländern eine hohe Verantwortung gegenüber Geflüchteten zu, insbesondere im Hinblick auf den Bedarf an psycho-sozialer Betreuung und die soziale Anerkennung des Erlittenen.
Zwischen 20% und 40% der Ankommenden leiden an einer behandlungsbedürftigen Traumafolgestörung bedingt durch Erfahrungen in der Heimat und auf der Flucht (vgl. transkulturelle Psychiatrie: AG Transkulturelle Psychiatrie HU Berlin). Missglückt (beispielsweise bei Kriegsflüchtlingen) eine eigentlich als „Selbstrettungsversuch vor dem Trauma“ zu verstehende Flucht – etwa durch eine Abschiebung in das ursprüngliche Trauma – kann dieses Scheitern dramatisch, mitunter auch fatal enden. Vor allem dann, wenn MigrantInnen feststellen müssen, dass sie an ihren Zufluchtsorten in Europa soziokulturell isoliert werden.
Der psychotherapeutische Bedarf taucht meist zeitlich verzögert auf, sobald Betroffene aus dem „Überlebensmodus“ herauskommen. Die Wahrscheinlichkeit für psychische Probleme steigt an, je häufiger Betroffene Gefahren ausgesetzt waren. Schneck zufolge sind es vor allem die durch Menschenrechtsverletzungen ausgelösten Schreckenserlebnisse, die bei einer Therapie mitbedacht werden müssen: körperlicher und/oder seelischer Missbrauch im Rahmen von Folter, sexuelle Gewalterfahrung, Krieg. Auch das Miterleben von Gräueltaten an Anderen oder Schuldgefühle angesichts der persönlichen Unversehrtheit zählen dazu.
Zur Epidemiologie physischer Störungen bei Flüchtlingen berichteten weiter Alida Di Gangi (Psychotherapeutin im Krankenhaus Brixen) und Andreas Conca (Primar Psychiatrie Krankenhaus Bozen). In ihren Beiträgen hoben sie hervor, dass eine therapeutisch vertiefende Auseinandersetzung mit PatientInnen erst dann stattfinden kann, wenn sich Geflüchtete subjektiv sicher fühlen können. Eine unklarere Bleibeperspektive wirkt sich also äußerst negativ auf den Behandlungserfolg aus.
In der Diskussion wurde vertiefend auf die Behandlung psychischen Leidens eingegangen. Betont wurde die Notwendigkeit, den Menschen als Überlebende und nicht als bemitleidenswerte Opfer zu begegnen, d.h. ihnen Respekt vor der Überlebensleistung zu zollen, ihre Ressourcen zu stärken – essentielle Vorbedingungen für ihre Integration. Außerdem wurde eine Vernetzung zwischen Therapie-Offerierenden und Freiwilligen für eine verbesserte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung gefordert. Insbesondere Ehrenamtliche sollten in der Früherkennung von Symptomen, die auf eine Traumatisierung hindeuten können, geschult werden. Der bei dieser Arbeit notwendige Einbezug von KulturmittlerInnen wurde im daran anschließenden Teil vertieft.
Rahmenbedingungen für eine „kultursensible“ Gesundheitsversorgung
Die große Bedeutung, die der Beziehung zwischen PatientIn und TherapeutIn in einer Behandlung zukommt (Kleinman & Benson 2006), und damit einhergehend die Rolle der Sprach- und KulturmittlerInnen, betonte Franco Perino (stellvertretender Chefarzt der Dermatologie im Krankenhaus Bozen). Ein Beispiel mit besonderen Herausforderungen stellen sogenannte „kultursensible“ Screenings („Erzählungen der Haut“) dar, bei welchen MigrantInnen vor einer Untersuchungskommission von Foltererfahrungen berichten. Kultursensible Dolmetscherdienste stellen hier ein wichtiges Hilfsangebot für Diagnostik und Therapie dar.
Der im Bozener Krankenhaus für MigrantInnen zuständige Krankenpfleger Erich Oberkalmseiner erörterte sprach- und andere migrationsspezifische Zugangsbarrieren. Vorrangige Problemfelder betreffen Schwierigkeiten der (sprachlichen) Arzt-Patienten-Kommunikation, inkompatible Krankheits-Erklärungsmodelle, Probleme fachsprachlicher Natur oder der Präsentationsstil von Symptomen (d.h. Unverständnis, wie PatientInnen Leiden ausdrücken). Auch (rassistische) Diskriminierung und zeitliche Zwänge wirken als Zugangshindernisse zur Gesundheitsversorgung (Stülb & Adam 2010). Fehldiagnosen, komplexe „Patientenkarrieren” und Verzögerungen bei der Therapie sowie mangelnde Adhärenz können die Folge sein.
Um Kommunikationsschwierigkeiten auf Seiten der PatientInnen und des Fachpersonals entgegenzuwirken, hat sich die Hilfe von Sprach- und KulturmittlerInnen bewährt. Die aus Marokko stammende Biologin Fatima Azil gehört als Kultur-Mediatorin zum Leitungsteam der Sozialgenossenschaft Babel . Sie berichtete, wie die Genossenschaft durch ihre Dolmetscherdienste eine Brücke zwischen medizinischen Einrichtungen und psychosozialen Zentren und deren fremdsprachigen KlientInnen baut, und somit ein asymmetrisches Machtgefälle zwischen den Parteien auszugleichen sucht (vgl. Albrecht und Borde 2005). Auf die innerhalb der medizinischen Fachöffentlichkeit viel diskutierte Frage nach der Bedeutung „kulturspezifischer” Krankheitsvorstellungen auf Seiten der als „fremd” wahrgenommenen PatientInnen wurde im abschließenden Part eingegangen.
Kultur und Stereotypie: Der „fremde“ Patient
Um zu einem fundierten Verständnis des Themas Medizin und Migration beizutragen, ist neben der medizinischen die Einbeziehung einer sozialanthropologischen Perspektive, die sowohl die Bedeutung des sozialen Kontexts für die Erklärung von Patientenverhalten als auch die strukturellen Bedingungen (wie das nationale Versorgungssystem, die finanziellen Ressourcen etc.) mitberücksichtigt, unerlässlich. So kann gezeigt werden, dass stereotype Verweise auf „kulturspezifische” Verhaltensweisen im Krankheitsfall häufig auf einem essentialistischen Kulturverständnis basieren, welches von einer herkunftsbezogenen „Prägung” der Menschen ausgeht, die auch durch Migrationserfahrungen kaum Änderungen unterliegt (Knecht 2008; Knipper 2015).
Zwischen der Notwendigkeit auf „Kulturspezifik“ aufmerksam zu machen, und der „Gefahr der Kulturalisierung“ (Knipper & Bilgin 2010; Stülb & Adam 2010) suchten die Vortragenden des vierten Blocks eine vermittelnde Position einzunehmen, indem sie sich dafür aussprachen, kulturell beeinflusste Problemkonstellationen weder zu verschweigen noch zu dramatisieren, sondern dafür sensibilisierten, diese differenziert zu verstehen, um zu einer positiven Verwendung des Kulturbegriffs in der Praxis anzuleiten.
Anhand von Fallbeispielen aus Langzeitforschungen veranschaulichten Antonio Luigi Palmisano (Universita Salento), Caroline Meier zu Biesen (Freie Universität Berlin/Cermes3, Paris) und Ana Cristina Vargas (Universität Turin) den Beitrag, den die Ethnologie leisten kann im Bestreben, (mitunter konfliktive) ontologische Annahmen in Bezug auf Krankheitsbilder, gesundheitssuchendes Verhalten oder den Umgang mit dem Sterben zu hinterfragen.
Palmisano warnte mit Blick auf global gesteuerte gesundheitsrelevante Interventionen der WHO in Afghanistan (hier: Tuberkulose) vor einer fehlenden Sicht auf lokale Gegebenheiten und erinnerte daran, dass Therapien bzw. ihre Akzeptanz („Therapie als Initiationsritus“) und Verbesserung nur unter Einbeziehung der kulturellen und politischen Zusammenhänge sowie Praktiken der Wissenskonstruktion verstanden werden können. Letztlich appellierte er an einen verantwortungsvollen Umgang mit Wissen bezüglich dessen, wie Menschen ihr Verständnis von Epidemien entwickeln, als auch die Flucht von Menschen betreffend („das Geschäft mit der Flucht“).
Meier zu Biesen veranschaulichte an Hand von Krankheitsgeschichten aus Tansania (in Kooperation mit dem Südtiroler Verein World Doctors erforscht, siehe Meier zu Biesen et al. 2012), dass Annahmen zu den Ursachen von Krankheiten und korrespondierende Behandlungen von Vorstellungen begleitet werden können, die über biomedizinische Erklärungen hinausgehen. Auch diskutierte sie, welche Erkenntnisse der ethnologischen Forschung sich fruchtbar machen lassen für die Frage der Vertrauensbildung zwischen medizinischem Fachpersonal und PatientInnen sowie ihren sozialen Netzwerken (“therapeutische Allianz”). Mit Rückbezug auf medizinethnologische Forschungen stellte sie eine Reihe von Maßnahmen vor, die Institutionen ergreifen können, um ihre „transkulturelle Kompetenz“ zu erhöhen. Neben Fortbildungen zu Kultur/Migration/Integration und medizinethnologischen Konzepten, dem Einbeziehen von Netzwerken, (“Migrant Friendly Hospital”), der Kooperation mit religiösen Gemeinschaften gehört dazu auch der Fokus auf die Resilienz von Geflüchteten. D.h. eine Einbettung von Bewältigungsstrategien aus der Heimat, die hier in Europa wirksam sind (vgl. die “Anthropologie des guten Lebens”, Jackson 2013).
Vargas diskutierte, welche Rolle die Kultur in der Bedeutungsgebung des Todes einnimmt. Davon ausgehend sensibilisierte sie für das im Zusammenhang mit Migration wichtige Thema des „Sterbens in der Fremde”. Insbesondere ging sie auf die psychologisch bedeutsame Rolle von Trauerriten, die spirituelle Begleitung (“die letzte Reise“) und die Bedeutung der letzten Ruhestätte ein. Fehlt eine letzte Ruhestätte und entsprechend die Sinnfindung, auch die „Sicherheit“ des Todes, kann eine Trauerverarbeitung erschwert abgeschlossen werden (u.a. durch das Ertrinken Angehöriger im Mittemeer, das keine letzte Ruhestätte birgt, die Ungewissheit ob des Verbleibes Angehöriger, das erschwerte Rückführen von Leichen, die Scham, einen Migrationsprozess nicht abgeschlossen zu haben). Diese ungelösten Konflikte aufseiten der MigrantInnen zu verstehen sei essentiell für ihre therapeutische Begleitung in Europa.
Ausblick: Praxisnah und praktikabel – sensible Gesundheitsversorgung für MigrantInnen
Der intensive Austausch zwischen den Vortragenden und TeilnehmerInnen aus unterschiedlichen Berufsgruppen und gemeinsame Überlegungen zur Praxisrelevanz historischer und medizinethnologischer Denkansätze hat diesem Fachkongress einen besonderen Charakter verliehen. Im historischen Rückblick wurde deutlich, dass in Italien Konzepte der interkulturellen Öffnung und eine Anerkennung von Diversity-Bedürfnissen nur sehr allmählich umgesetzt werden. Die Kongressbeiträge und Diskussionen zeigten jedoch auch, dass die gegebene autochthone sprachliche und kulturelle Vielfalt innerhalb der Bevölkerung eine besondere Ausgangslage für den Umgang mit Zuwanderung darstellt, und bereits verschiedene Formen der lokalen politischen Einflussnahme in Bozen dazu geführt haben, eine interkulturelle Öffnung des Gesundheitssystems in Gang zu setzen. Zur weiteren Unterstützung dieser interkulturellen Öffnung wurde im Rahmen des Kongresses eine stärkere Einbeziehung von Migrantenorganisationen durch Behörden in die Politikgestaltung empfohlen. Um Unsicherheiten im Umgang mit einer vielfältigen Klientel, Fehlverhalten oder unnötige Kosten zu vermeiden, sind darüber hinaus thematische Fortbildungen – basierend auf dem Erwerb von transkultureller Kompetenz – für Angehörige verschiedener Gesundheitsberufe gefordert worden.
Das Thema Migration hat den soziokulturellen Aspekten von Krankheit sowie politisch-ökonomischen Zusammenhängen, in die gesundheitsrelevantes Verhalten eingebettet ist, wieder mehr Aufmerksamkeit verschafft. Letztlich ist deutlich geworden, dass es sich bei den mit dem Thema Migration identifizierten Herausforderungen der medizinischen Versorgung im Kern um „Variationen struktureller Probleme der modernen Medizin“ handelt (Knipper & Bilgin 2009), von denen alle PatientInnen (mit und ohne Migrationshintergrund) gleichermaßen betroffen sind. Eine systematische Reflexion über die kulturellen und ethischen Dimensionen von professionellem Handeln im Gesundheitsbereich würde entsprechend allen PatientInnen zugutekommen.
Autorin
Caroline Meier zu Biesen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin und Forschungsmitglied im ERC-Projekt GLOBHEALTH in Paris (Cermes3). Ihre Forschungen fokussieren auf globale Gesundheitssteuerung, transnationalen Medikamentenhandel, HIV/AIDS, Malaria und traditionelle Medizin. Ihre Forschungsregionen sind Ostafrika und Indien. Neben Langzeit-Feldforschungen hat sie in innovativen Gesundheitsprojekten mit Gesundheitsministerien und NGOs in Äthiopien und Tansania mitgearbeitet. Ihr derzeitiges DFG-Forschungsprojekt untersucht die Kollaborationsmöglichkeiten zwischen traditionellen HeilerInnen und ÄrztInnen im Kontext von Diabetes in Sansibar.
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