„Ebola ist nur eins unserer Probleme“ ‒ in Telefonaten mit sierra-leonischen Freunden und Bekannten höre ich diese Einschätzungen bereits seit Monaten regelmäßig. Gemeint ist damit schon lange nicht mehr, dass die Krankheit nicht ernst genommen oder gar an ihrer Realität gezweifelt wird. Im Gegenteil, in weiten Teilen der sierra-leonischen Bevölkerung hat das Bewusstsein über die Ebola-Gefahr den Alltag bereits fundamental verändert. Hier nur einige Beispiele: Während Bus- und Taxifahrten früher mit massenhaftem engen Körperkontakt einhergingen, weil Busse und Taxis bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit mit Passagieren beladen wurden, sitzt man heute mit einigem Abstand zueinander. Bus- und Taxifahrer nehmen mittlerweile ‒ zu erheblich erhöhten Preisen ‒ nur noch eine eng begrenzte Zahl an Passagieren auf. Überhaupt wird die Einschränkung von sonst üblichen sozialen Körperkontakten (Händeschütteln, Umarmen) von vielen akribisch betrieben. Die kleine Tochter eines engen Freundes lernte im August dieses Jahres gerade, ihre ersten zusammenhängenden Worte zu sprechen, darunter prominent vertreten die Aufforderung: „Fass mich nicht an!“. Und während Krankenbesuche normalerweise ein geselliges Ereignis und geradezu eine Pflicht sind, der selbst entfernte Verwandte und Nachbarn in Scharen nachkommen, können diejenigen, die aktuell an fiebrigen Erkrankungen leiden, kaum mit Besuchern rechnen.
Dabei sind unter denjenigen, mit denen ich in Sierra Leone spreche, keinesfalls nur hoch gebildete oder womöglich „verwestlichte“ Sierra Leonerinnen und Sierra Leoner. Vielmehr gehören die meisten meiner Freunde und Bekannten zu der großen sozialen Klasse der städtischen Armen, deren Angehörige sich dadurch auszeichnen, dass sie ohne nennenswerte Rücklagen als freiberufliche Kleinhändlerinnen und -händler, Lastenschlepper, Bauarbeiter u. Ä. von der Hand in den Mund leben. Ebola, so ließe es sich formulieren, ist in der Mitte der sierra-leonischen Gesellschaft angekommen – auch wenn gerade der infektionsgefährliche Umgang mit erkrankten oder verstorbenen geliebten Angehörigen ohne Frage ein zentrales Thema bleibt. Und wie könnte es auch anders sein? Medienberichte, in denen (nicht zuletzt anknüpfend an WHO-Statements und Interviews mit Helfern vor Ort) immer wieder auf die besondere Problematik „kultureller Praktiken“ hingewiesen wird, die das Waschen und Berühren von Verstorbenen beinhalten, werden der zutiefst menschlichen und emotionalen Dimension der ‒ ganze ohne Frage gegebenen ‒ Herausforderungen kaum gerecht (vgl. etwa Ohlheiser 2014; Dambeck 2014). Es hilft vielleicht, sich bewusst zu machen, dass „irrationales“ (in diesem Fall selbstgefährdendes) Verhalten im Umgang mit Verstorbenen keinesfalls eine spezifisch westafrikanische Besonderheit ist und zuweilen sogar in westlichen Kontexten, in denen veranstaltlichtes Sterben die Norm darstellt, positiv konnotiert ist. Die US-amerikanische Anthropologin und Liberia-Spezialistin Mary Moran hat in diesem Zusammenhang etwa auf die Praxis von US Militär-Spezialeinheiten hingewiesen, deren Angehörige ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um die sterblichen Überreste gefallener Kameraden zu bergen (vgl. Moran 2014).
Verunsicherung, Misstrauen und enttäuschte Entwicklungshoffnungen
„Ebola ist nur eins unserer Probleme“ ‒ was also ist mit dieser Einschätzung gemeint? Zum einen bezieht sie sich auf die aktuelle Lebenssituation der meisten Sierra Leonerinnen und Sierra Leoner, die sich auf ohnehin geringem Niveau im Zuge der Ebola-Epidemie und staatlich verordneter Quarantäne- und Abschottungsmaßnahmen noch drastisch verschlechtert hat. Diese Maßnahmen, die vor allem in Bemühungen um die Isolation von Infizierten und Verdachtsfällen, in der Verhängung von allgemeinen Ausgangssperren und in der Einrichtung von Straßensperren bestehen − Ausgangs- und Straßensperren sollen generell die Ausbreitungsgelegenheiten des Virus beschränken −, schränken zugleich den Verkehr von Gütern sowie die Möglichkeiten des alltäglichen „Geld-Findens“ drastisch ein, das die Überlebensgrundlage vieler Sierra Leonerinnen und Sierra Leoner gerade in städtischen Gebieten darstellt. Viele fühlen sich durch diese Maßnahmen vor allem in Schach gehalten beziehungsweise auf ein Abstellgleis geschoben, wo sie, wie eine Kleinhändlerin aus der im Südosten gelegenen Stadt Kenema es in einem Telefongespräch formulierte, „wenn nicht an Ebola, dann bestimmt an etwas anderem sterben werden.“ Viele haben keinerlei Einkommen mehr, die Lebensmittelpreise steigen und an Medikamente geschweige denn ärztliche Behandlung für verbreitete Krankheiten wie Typhus und Malaria ist vielerorts gar nicht mehr heranzukommen. Auch nehmen Berichte darüber zu, dass Ausgangssperren von Polizei und Paramilitärs zunehmend „unmenschlich“ durchgesetzt werden und dass zudem an ihnen verdient wird. Denn wer Ausgangssperren nicht einhält, aus welchen Gründen auch immer, muss hohe und für die meisten unbezahlbare Bußgelder entrichten (ein Freund aus der nördlichen Provinzstadt Kabala bezifferte den aktuell üblichen Betrag auf 500.000 Leones, ca. 85 Euro) ‒ oder wird inhaftiert. Die sierra-leonische NGO AdvocAid weist auf ihrer Homepage auf die Verunsicherung hin, die eine stetig wachsende Zahl an Ebola-Notstandsgesetzen in weiten Teilen der Bevölkerung auslöst (vgl. Lavaly & Mathani 2014). Die Ankündigung des neuen Ebola-Ministers Palo Conteh, diese Gesetze gegebenenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen, ist sicher nicht dazu geeignet, dieser Verunsicherung konstruktiv zu begegnen (vgl. Awoko 2014).
Ohnehin gehen viele, wenn nicht sogar die meisten Menschen in Sierra Leone eher nicht davon aus, dass „ihre“ staatlichen Autoritäten tatsächlich auf ihrer Seite sind. Dies ist keinesfalls nur auf den Bürgerkrieg (1991-2002) zurückzuführen. Vielmehr lässt sich diese auf Misstrauen und Enttäuschung gegründete Erwartungshaltung auch bis weit in die Vorkriegszeit zurückverfolgen (vgl. Shepler 2014). Und sie wurde in der Nachkriegszeit erneut bestätigt, in der das politische Establishment in sichtbarem Wohlstand lebt, während öffentlich erklärte Entwicklungserfolge meist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Dabei wird in der aktuellen, von der Ebola-Epidemie geprägten Wahrnehmung des Landes häufig ausgeblendet, dass Sierra Leone bis Anfang dieses Jahres international vielen als Vorzeige-Nachkriegsland galt, das nicht nur seit Kriegsende trotz widriger Bedingungen keinen „Rückfall“ in kriegerische Gewalt erlebt hat, sondern mit einem Wirtschaftswachstum von mehr als 16 Prozent in 2013 auch ökonomisch brillierte (vgl. Zayid 2014).
Allerdings: Dieses vor allem durch ausländische Direktinvestitionen generierte Wachstum geht zugleich mit sozialen Konflikten einher (etwa um ausländischen Landerwerb, daraus resultierende Umsiedlungen und den Verlust von landwirtschaftlich nutzbaren Flächen, vgl. ALLAT 2013; Human Rights Watch 2014) und hat sich zudem gerade nicht in weithin spürbaren Verbesserungen von Lebensbedingungen und öffentlichen Dienstleistungen ‒ beispielsweise auch im Bereich der Gesundheitsversorgung ‒ niedergeschlagen. Somit lieferten auch die letzten „erfolgreichen“ Jahre zahlreiche Anlässe für andauernde Enttäuschungserfahrungen (vgl. Menzel 2013).
„Echte“ Hilfe und Perspektiven auf Zugehörigkeit
Vor diesen Hintergründen zweifeln Sierra Leonerinnen und Sierra Leoner daran, dass sie „diesmal“ von internationaler Hilfe wirklich erreicht werden und dass diese Hilfe tatsächlich auf ihre unmittelbar drängenden Bedürfnisse zugeschnitten sein wird. Viele verweisen in diesem Zusammenhang auf internationale Friedensmaßnahmen und Entwicklungshilfe, die sie entweder als wenig hilfreich erlebt haben oder die nicht bei ihnen ankamen. Und dennoch wird auf internationale Hilfe gehofft, um Ebola weiterhin bekämpfen zu können − wobei dies jedoch nur einen Teil der hartnäckig gehegten Hoffnungen ausmacht. Mindestens ebenso wichtig wäre für viele die Aussicht darauf, dass es trotz und nach Ebola auch „entwicklungsmäßig“ endlich weitergeht. Eine weitere Einschätzung, die mir in Telefonaten immer wieder vermittelt wird, lautet entsprechend: „Außer Ebola passiert hier nichts mehr. Wie soll es bloß mit uns weitergehen?“ Was hierin zum Ausdruck gebracht wird, sollte keinesfalls als Unterschätzung der aktuellen Gefahr gedeutet werden. Vielmehr geht es schlicht darum, dass es auch trotz und nach Ebola weitergehen muss ‒ und endlich besser weitergehen soll als bisher. Internationale Hilfe, so sehen es viele, wird dies alleine ganz sicher nicht bewirken können. Stattdessen betonen meine Freunde und Bekannten, dass sie sich endlich eigene Autoritäten wünschen, die tatsächlich für sie arbeiten, also fest auf ihrer Seite stehen, und dass sie darauf hoffen, nicht als „eklige Leute“, als wandelnde Virusdepots, von der „westlichen Welt“ abgeschnitten zu werden. Entwicklungsmöglichkeiten werden vor allem in mehr und idealerweise zunehmend gleichberechtigten globalen Verknüpfungen gesehen, deren Realisierung angesichts der Epidemie in noch weitere Ferne gerückt erscheint.
Autorin
Anne Menzel ist Gastwissenschaftlerin am Sonderforschungsbereich 138 „Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in historischer Perspektive“ in Gießen und Marburg. Sie arbeitet dort aktuell zu Entwicklungspolitiken und Versicherheitlichungsdynamiken in Sierra Leone. Anne hat an der Freien Universität Berlin promoviert und von 2013 bis 2014 in mehreren Projekten als freiberufliche Beraterin für die NGO International Alert gearbeitet. Ihre Dissertation „Was vom Krieg übrig bleibt: Unfriedliche Beziehungen in Sierra Leone“ erscheint Anfang 2015 im transcript Verlag.
Literaturverweise
ALLAT (Action for Large-Scale Land Acquisition Transparency). 2013. Who is Benefitting? The Social and Economic Impact of Three Large-Scale Land Investments in Sierra Leone: A Cost-Benefit Analysis. Freetown: ALLAT.
Awoko. 2014. Sierra Leone News: We will use force if… NERC boss. In: Awoko vom 20.11.2014. http://awoko.org/2014/11/20/sierra-leone-news-we-will-use-force-if-nerc-boss/. Letzter Zugriff am: 10.12.2014.
Dambeck, Holger. 2014. Rechenmodell: Simulation zeigt Wege zum Sieg über Ebola. In: Spiegel Online vom 31.10.2014. http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/ebola-simulation-beerdigungen-sind-das-groesste-problem-a-1000372.html. Letzter Zugriff am: 09.12.2014.
Human Rights Watch. 2014. Whose Development? Human Rights Abuses in Sierra Leone’s Mining Boom. New York: Human Rights Watch.
Lavaly, Simitie & Sylvia Mahtani. 2014. Law in a Time of Ebola. http://www.advocaidsl.com/2014/10/19/law-in-a-time-of-ebola-2nd-blog-published-in-new-internationlist/. Letzter Zugriff am: 10.12.2014.
Menzel, Anne. 2013. Ernest’s Looking Glass: Development Reflections from a Long Awaited Return to Sierra Leone. http://matsutas.wordpress.com/2013/12/19/ernests-looking-glass-by-anne-menzel/. Letzter Zugriff am: 09.12.2014.
Moran, Mary. 2014. Vortrag im Rahmen der American Anthropological Association/World Council of Anthropological Associations/Wenner-Gren Foundation Emergency Initiative on the Ebola Outbreak am 07.11.2014. https://www.youtube.com/watch?v=coyhy39RzZI&list=PL0OchlJ85m4d5vFUBNaAN-BcDLDJsr0FQ. Letzter Zugriff am: 09.12.2014.
Ohlheiser, Abby. 2014. People are struggling to bury the Ebola dead. Here’s why. In: The Washington Post vom 07.08.2014. http://www.washingtonpost.com/news/world/wp/2014/08/07/people-are-struggling-to-bury-the-ebola-dead-heres-why/. Letzter Zugriff am: 09.12.2014.
Shepler, Susan. 2014. The Ebola Virus and the Vampire State. http://matsutas.wordpress.com/2014/07/21/the-ebola-virus-and-the-vampire-state-by-susan-shepler/. Letzter Zugriff am: 09.12.2014.
Zayid, Jamal. 2014. Sierra Leone. http://www.africaneconomicoutlook.org/fileadmin/uploads/aeo/2014/PDF/CN_Long_EN/Sierra_Leone_EN.pdf. Letzter Zugriff am: 09.12.2014.